Die Flüchtlingskrise als Herausforderung für unser Selbstverständnis

Rede zum Neujahrsempfang in der Evangelische Akademie Bad Boll am 10. Januar 2016

„Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.“ (Mt 25,35)

Lieber Herr Stepanek, lieber Herr Dr. Hübner, sehr geehrte Damen und Herren,

weiß von Ihnen noch jemand, welches Wort die „Gesellschaft für deutsche Sprache“ zum Wort des Jahres 2014 gekürt hatte? Es war das Kunstwort „Lichtgrenze“. Es bezog sich auf die Berliner Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag des Mauerfalls. Auf die Lichtballon-Grenze quer durch die Stadt. Ein entscheidender Tag für unser Land, als die Mauer fiel; ein starkes, aber flüchtiges Bild im vorvergangenen Jahr als tausende dieser leuchtenden Ballons gen Himmel stiegen – und die für wenige Tage noch einmal sichtbare Grenze ein letztes Mal verschwand.

Auch ein Sehnsuchtsbild für unseren Umgang mit Grenzpolitik, wenn sie mir diese Bemerkung gestatten. Als Soundtrack zum Verschwinden der Lichtgrenze erklang Beethovens „Ode an die Freude: “Alle Menschen werden Brüder“. Brüder und Schwestern. Das Ziel aller menschenfreundlichen Politik. Könnte man sagen.

„Willkommenskultur“ lag 2014 übrigens nur auf Platz 6 dieser „Wort des Jahres“-Bestenliste. – Und für 2015 wurde – das wissen Sie sicher alle noch – „Flüchtling“ zum „Wort des Jahres“ gekürt. Lichtgrenze, Willkommenskultur, Flüchtling. Das ist ein Dreiklang, der die Tonalität meiner Rede heute Nachmittag bestimmen soll. „Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Die aktuelle Flüchtlingskrise als Herausforderung für unser Selbstverständnis und für unser Miteinander“ – dieses Thema hat mir die Akademie aufgegeben.

Was ist ein Fremder?

Der Satz „Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen“ stammt aus dem 25. Kap. des Matthäusevangeliums. Er wurde auf griechisch verfasst. In der römischen Provinz Syria im Umfeld einer Gruppe von messianischen Juden. Und zwar um das Jahr 80 nach Christus. Und heute nun, am 10. Januar 2016, ist dieser Satz auf seiner nun schon fast 2000 Jahre währenden Reise durch die Geschichte im idyllischen Bad Boll zwischengelandet.

Wenigstens einen Moment möchte ich Sie bitten diesem Phänomen Ihre Aufmerksamkeit, ja, Ihr Staunen zu schenken: Was in diesen Tagen als Kultur des christlichen Abendlandes gedeutet wird, spricht einen nordafrikanischen Akzent. „Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen“, der Satz hat eine lange und unübersichtliche Integrations- und Inkulturationsgeschichte hinter sich: Er hat einen Migrationshintergrund. Und doch viele empfinden ihn  – spätestens seit Luthers Bibelübersetzung – als Teil der deutschen Kultur.

Dabei ist das Deutschland des Jahres 2016 ja nur mit Einschränkungen ein christliches Land zu nennen – auch wenn in Baden-Württemberg die Mitgliedschaft in einer christlichen Kirche noch für rund achtzig Prozent der Bevölkerung als „normal“ gilt.

Inzwischen leben in Deutschland Millionen Menschen mit anderen religiösen Muttersprachen und es gibt weite Regionen, vor allem im Osten, in denen die Konfessionslosen und `religiös Unmusikalischen` eine breite Mehrheit bilden. Für viele von ihnen ist mehr als befremdlich, was in der Kirche normal ist: gegenwartspolitische Themen im Dialog mit einem 2000 Jahre alten Text zu reflektieren. Ja, im nahen fernen Osten unserer Republik sind Christinnen und Christen oft selbst Fremde.

Wer fremd ist, was als fremd erlebt wird, ist nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Auch wenn es nahe liegt, in diesen Zeiten bei Fremden zuerst an Flüchtlinge zu denken. Aber eine solche Perspektive verengt von vornherein den Blick: Fremdheitserfahrungen machen in unserem Land nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund.

Fremdheitserfahrungen kennen wir alle! Manchmal fühlen wir uns selbst unter Freunden fremd, Parteifreunde sollen sich manchmal fremd fühlen in der eigenen Partei, und wenn Sie die eine oder andere Festivität erinnern, die Sie im zurückliegenden Jahr besuchen mussten: Hand auf’s Herz, wie haben Sie sich da gefühlt?

Wir alle sind immer wieder Fremde, im eigenen Leben, in der Familie oder im eigenen Land. – Unsere Fremdheitserfahrungen verunsichern uns zutiefst, beeinflussen Lebensgefühl und Verhalten. Fremdheitserfahrungen lösen Ängste aus. Das Gefühl von Fremdheit ist eine brüchige Basis für Vertrauen.

Schauen wir zunächst auf die Menschen, die einem in diesen Tagen zuerst einfallen, wenn über Fremde gesprochen wird. Die geflüchteten Männer, Frauen, Jugendliche und Kinder, die sich – so hat es die Journalistin Elisabeth Raether in der Wochenzeitung „Die Zeit“ formuliert – „im Panikmodus“ befinden.

Ich zitiere: „Viele lebten jahrelang im Krieg. Sie sind auf einer lebensgefährlichen Reise. Sie haben jede Sicherheit verloren: Wohnung, Beruf, Heimat, Verwandte und Freunde. Sie ließen alles zurück, was eine Identität ausmacht“ (Elisabeth Raether: Wie wäre es denn mal mit reden? DIE ZEIT Nr. 44/2015, 29. Oktober 2015).

Kurz: Die Flüchtlinge sind auf mehrfache Weise zu Fremden geworden: Zunächst wurden sie zu Fremden im eigenen Land – sonst hätten sie ihre Heimat nicht verlassen müssen, dann zu Fremden in einem fremden Land, und schließlich werden viele sich selber fremd. Denn was bleibt einem Menschen in der Fremde von seinem alten Selbst? – Wenig. Verletzlicher kann ein Mensch kaum sein. Das können wir nachlesen in den berührenden Schilderungen der vor den Nationalsozialisten geflohenen Schriftstellern und Künstlerinnen, die selbst in den USA mit Schreibblockaden und Depressionen zu kämpfen hatten. Da kann ich vor der Haustüre beobachten, bei der tapferen syrischen Familie mit drei kleinen Kindern, die im Pfarrhaus gegenüber eingezogen sind; die um eine Alltagsstruktur und erste Kontakte bemüht sind und gerade beginnen Deutsch zu lernen. Wie angewiesen sind solche Menschen auf Schutz und Willkommenszeichen!

Doch nicht nur Flüchtlinge leiden unter Fremdheitsgefühlen, fühlen sich nicht dazugehörig. Jeder Schwabe, der nach Norddeutschland reist, weiß, wie es sich anfühlt, als fremd empfunden zu werden. Das sind zwar eher harmlose Erfahrungen. Aber sie bergen in sich doch einen Keim der großen Verlorenheit, die Fremdsein als existentielle Erfahrung bedeutet. Fremd ist nicht nur, wer einen sogenannten Migrationshintergrund aufweist.

Auch materiell deutlich schlechter gestellte Menschen, Arme fühlen sich oft wie Fremde im eigenen Land. Ausgeschlossen, von vielem, was der Mehrheit selbstverständlich erscheint. Wer Armut bekämpft, spricht darum davon, dass es in der Sozialpolitik darum gehen muss, Teilhabe zu ermöglichen. Es geht darum, das Ausgeschlossensein zu überwinden.

Besonders aggressiv und augenfällig melden sich aktuell Menschen zu Wort, die sich in dem Land, in dem sie geboren sind, als ausgeschlossen und als nicht zugehörig fühlen – als Fremde eben. Vor allem im Osten unserer Republik. Montag für Montag bevölkern sie die Innenstadt Dresdens. Sie rufen „Wir sind das Volk“ – und etablieren ein anderes „Wir“.

Die Ostdeutsche Schriftstellerin Daniela Krien nimmt diese Fremden im eigenen Land in den Blick, wenn sie über die aktuelle Situation in Sachsen sagt: „Dieses Land ist gespalten: in Vorzeige-Sachsen und Pegida-Sachsen, in Gutverdiener und Zukurzgekommene, in Gewinner und Verlierer“ (vgl. Christoph Dieckmann: Warum immer Sachsen?, Zeit online vom 17.09.2015).

Leipzig, wo Frau Krien wohnt, ist boomendes „Hypezig“ – und deutsche Armutshauptstadt gleichermaßen. Der Bruch sei eine Weile lang kaum sichtbar gewesen, aber nun trete er umso krasser hervor. „Einerseits sind die erfolgreichen Sachsen für ostdeutsche Verhältnisse überdurchschnittlich erfolgreich. Die Gescheiterten in Sachsen hingegen besonders abgehängt. Und besonders wütend.“

Ich möchte mich ein wenig länger bei Daniela Krien aufhalten. Denn ihre Beobachtungen helfen, die Aggressivität einzuordnen, mit denen Flüchtlingen zum Teil begegnet wird. Die furchterregende Zunahme der rechten Gewalt. Nicht nur im Osten.

Krien ist in dem kleinen Ort Görschnitz im Vogtland aufgewachsen, sie blieb dort, bis sie siebzehn war. Ihre Kindheit sei idyllisch gewesen: viel Wald, viel Wiese, viel Draußensein. Umso chaotischer sei dann ihre Jugend geworden: viele Nazis, viel Gewalt, viel Bushaltestellenbier. Das waren die Jahre 1990, 91, 92.

„Die Zeit war extrem politisiert“, sagt Krien, „man musste sich entscheiden, ob man links oder rechts ist. Ich ging abends nie ohne Tränengas aus dem Haus.“

Es habe im Wesentlichen zwei Möglichkeiten gegeben, dieser Jugend im Vogtland zu entkommen, erzählt Daniela Krien: Einige hätten ihr Leben auf die Reihe bekommen – andere seien komplett gescheitert. Krien ging nach Leipzig, wurde Autorin und bekam zwei Kinder. Einer der stadtbekannten Nazis ihrer Jugend, sagt sie, lebe schon gar nicht mehr. Andere seien versumpft in ihrer Plattenbauwohnung. In ihrem Leipziger Waldstraßenviertel, erzählt Krien, lebe schon lange kein Hartz-IV-Empfänger mehr. Das ist dort, wo die Mieten für Leipziger Verhältnisse teuer geworden sind, und der Kaffee jetzt Americano heißt.

Als Krien kürzlich in die Schule ihrer Tochter kam, um Spenden für Flüchtlinge abzugeben, da betrat sie ein Zimmer, gefüllt mit Kleidern und Spielzeug. Die Leipziger, sagt Krien, können überwältigend hilfsbereit sein. Ein paar Tage zuvor war sie in einem Kiosk, um sich eine Zeitung zu kaufen, und hörte, was die Verkäuferin über Flüchtlinge sagte: Was wird denn aus uns? Sind unsere Renten noch sicher? „Wir integrieren die Verlierer nicht“, sagt Krien. „Aber wir erwarten von ihnen, dass sie Flüchtlinge integrieren.“

Im Dezember habe ich Rodewisch im Vogtland besucht. Die Leiterin der Aufnahmegruppe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die die Bundespolizei in Zügen oder unter Brücken aufgreift, berichtet, wie heftig sich nächste Familienangehörige auf Geburtstagsfeiern über die Aufnahme der Flüchtlinge streiten. Sie reden für lange Zeit nicht mehr miteinander, manche gar nicht mehr.

Eltern und ihre Kinder werden einander fremd über die Frage der Aufnahme von Flüchtlingen. Paare, Nachbarn, Verwandte werden einander zu Fremden. Und das ist nicht nur im Vogtland so. Ich bin ein Fremder geworden – und ihr habt mich aufgenommen. Wie klingt der alte Satz aus dem Matthäusevangelium vor diesem Hintergrund?

Fremdsein und sich fremd fühlen, meine Damen und Herren, – hat viele Facetten in diesen Tagen in Deutschland. Dieses Gefühl, die Erfahrung von Fremdheit weitestgehend zu überwinden und durch ein Gefühl der Zugehörigkeit zu ersetzen, muss Ziel einer erfolgreichen Sozial- und Integrationspolitik sein. Wobei zu klären ist: Zu was und zu wem wollen wir gehören? Welches „Wir“ wollen wir zukünftig in diesem Land etablieren?

Die Beantwortung dieser Frage geht alle an, die in diesen Zeiten Schwierigkeiten damit haben, ihre Zugehörigkeit zu beschreiben. Nicht nur die, die sich fremd fühlen, sind dabei nach ihrem Beitrag zu einer neuen Bundesrepublik Deutschland in einer zusammen wachsenden Welt im vereinten Europa gefragt, sondern alle Mitglieder unserer Zivilgesellschaft.

Zielgruppe einer Integrationspolitik sind eben nicht nur die Fremden: die Flüchtlinge oder Migranten, die Verlierer, die Vergessenen, die Außenseiter. Integrationspolitik ist vielmehr Gesellschaftspolitik, die alle angeht und die alle mitgestalten. 2016 sollte in diesem Sinn zum Jahr der Integration werden!

Die derzeit drängenden Themen heißen integrativer Wohnungsbau für Mehrgenerationen und unterschiedliche Milieus, Stadtteilarbeit und Begegnungszentren für ein lebendiges Zusammenleben der Unterschiedlichen, Verhinderung von Ghettoisierung ebenso wie von Gentrifizierung. Eine Bildung, die allen Menschen Teilhabeperspektiven und Arbeit ermöglicht, möglichst frühe Praktika und integrierte, duale Ausbildungsgänge, eine präventive Gesundheitspolitik – und die gemeinsame Arbeit an unserer Kultur: Einer Kultur eines neuen angstfreien Miteinanders der Verschiedenen als Basis für unser demokratisches Gemeinwesen, als Quelle, aus der sich die Vielfalt in Respekt vor den jeweils Anderen in unserem Land speist.

„Wer ist wir?“ – lautet also die Frage, die es zu beantworten gilt. „Ich war ein Fremder, ihr habt mich aufgenommen.“ – Dieser Satz enthält die Vision einer angstfreien, fremdenfreundlichen und offenen Gesellschaft und zugleich eine Erfahrung: Es ist möglich, `wir hier und Ihr da` in ein neues integratives Wir zu verwandeln.

Aber wie?

Ich möchte im Folgenden darüber sprechen, wie es gelingen kann, Fremde in Nachbarinnen und Nachbarn zu verwandeln, die gemeinsam ihren Lebensraum gestalten wollen. Eine solche „Integrationspolitik“ wie ich sie verstehe, wird unser Selbstverständnis und unser Miteinander verändern. Wobei das kleine Wörtchen „unser“ eine wichtige Rolle spielt. Es muss eben definiert werden: Wer gehört zu uns?

Schon jetzt liegt auf der Hand: Eine solche Politik braucht einen langen Atem und einen weiten Horizont. Sie muss gleichzeitig global denken und lokal handeln. Und sie muss sich erklären. Sie muss, wenn sie erfolgreich sein will, von uns allen erstritten und gewollt werden.

„Wer also sind „Wir“? Der erste schlichte Beitrag zur Klärung dieses Wir heißt:

Wir sind Menschen.

Wer über die Folgen der sogenannten Flüchtlingskrise in Deutschland nachdenkt, ohne sich über ihre Ursachen Gedanken zu machen, wird zu falschen Ergebnissen kommen. Wir – das sind nicht wir Deutsche oder wir Europäer. Wir, das ist heute – kleiner geht es nicht – die Weltgemeinschaft der Menschen auf diesem unbegreiflich erwählten Planeten. Die Menschheit. Wir Menschen.

Über 60 Millionen von uns sind weltweit auf der Flucht. Die Meisten im eigenen Land, in den Nachbarländern. Das ist nicht erst seit dem vergangenen Spätsommer so. Das wissen Sie alle schon länger.

Im vergangenen Sommer ist die Not dieser Menschen in unserem Land lediglich auf eine Art und Weise angekommen, die kein historisches Vorbild kennt. Die den Alltag unterbricht, die die Gewohnheiten in Frage stellt und – wie jetzt in Köln sichtbar geworden – auch handfeste Probleme aufwirft.

Und: Das ist gut so.

Die Augenwischerei, dass die Konflikte und Kriege in den fernen Ländern uns nichts angingen, hat endgültig ihr Ende erreicht. Die Welt ist ein Dorf geworden – und wenn an einem Ende des Dorfes die Hütten brennen, kann man am anderen Ende nicht mehr so tun als ginge uns das nichts an. Wenn wir Menschen eine Verantwortungs-Gemeinschaft sind, müssen wir zuerst die Fluchtursachen bekämpfen.

Auf syrischen Facebookseiten kursierte vor einigen Wochen ein Graffiti, auf Arabisch auf eine Wand gesprüht, aufgenommen in Aleppo: „Aleppo ist schöner als Europa, wandert nicht aus!“ Zu dieser Zeit war Aleppo schon regelmäßig unter russischem Bombardement. Der Krieg in Syrien ist nur ein Beispiel dafür, wie schwierig das ist, was in Politik und Zivilgesellschaft unter der Überschrift „Fluchtursachen bekämpfen“ diskutiert wird.

Die Ursachen dafür, dass Menschen ihre Heimat verlassen, auswandern oder fliehen, vorübergehend oder dauerhaft, sind vielfältig und oft auf komplexe Weise miteinander verwoben. In einem Diakonietext aus dem Jahr 2007 (vgl. Diakonie Text 17.2007: Diakonie in der Einwanderungsgesellschaft. Mitten im Leben. Rahmenkonzeption Migration, Integration und Flucht). Das Thema beschäftigt uns also schon lange. Es werden vier Kategorien von Migrationsgründen unterschieden:

  1. Persönliche Gründe. (Das kann der Wunsch nach einem besseren Leben sein, eine Familienzusammenführung- oder gründung, es können Studienaufenthalte oder interessante Arbeitsbedingungen sein).
  2. Wirtschaftliche-soziale Lebensbedingungen: (Arbeitslosigkeit, geringes Einkommen, mangelnde Zukunftsperspektiven und Möglichkeiten zur wirtschaftlichen Entfaltung, aber auch staatliche Förderung der Auswanderung gehören zu dieser Motivlage).
  3. Politische Ereignisse (stehen im Hintergrund vieler Fluchtgeschichten – Kriege und Bürgerkriege, ethnische beziehungsweise Nationalitätenkonflikte, massive Menschenrechtsverletzungen, Folter, Verfolgung und Vertreibung).

und

  1. Die Veränderungen der natürlichen Lebensbedingungen (wie Wassermangel, Versteppung und Versalzung der Böden, ganz allgemein die Folgen des Klimawandels).

Auch in der derzeitigen Flüchtlingskrise, die ja nur ein Aspekt der weltweiten Migration ist, vermischen sich diese Motivlagen. In der deutschen Diskussion um Steuerung des Flüchtlingsstromes wird derzeit grob unterschieden zwischen Kriegs- oder Bürgerkriegsflüchtlingen, die ein Recht auf Asyl hätten, und den anderen, die das nicht hätten.

Aber, meine Damen und Herren, es ist meines Erachtens nur eine Frage der Zeit, bis solche Differenzierungen sich überholen werden. Ein Mensch in existentieller Not ist ein Mensch in Not. Heute sind es die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien, aus dem Irak und aus Afghanistan. Gut möglich, dass sich bald Klima oder Hungerflüchtlinge auf den Weg machen werden. Männer, Frauen, Jugendliche und Kinder. Und wer wollte sie aufhalten? Wer dürfte es, wenn gelten soll, dass Menschenrechte unteilbar sind?

Das Thema Zuwanderung wird uns Menschen in dieser kleiner gewordenen Welt mindestens im nächsten Vierteljahrhundert erheblich beschäftigen. Nicht nur in Deutschland, in Europa, sondern weltweit. Wir werden lernen müssen, mit Fremden umzugehen: mit Menschen, die sich verloren und ausgeschlossen fühlen, mit Menschen anderer Nationalitäten, anderer Kulturen, anderer Hautfarben, anderer Religionen und Sprachen.

Wir werden auch selbst Fremdheitserfahrungen im eigenen Land machen – weil sich auch unsere eingespielten Gepflogenheiten und Alltäglichkeiten, unsere Verhältnisse und unsere Lebensart verändern werden. Auch damit werden wir umzugehen lernen – hoffentlich auf konstruktive und demokratische Art und Weise.

Noch einmal: Wer verhindern will, dass Menschen, die wie wir am liebsten sicher in Ihrer Heimat leben, zu Flüchtlingen werden, muss mit aller Kraft daran arbeiten, die Fluchtursachen zu beheben.

Das geht. Und daran wird auch schon gearbeitet. Zum Beispiel von den kirchlichen Hilfswerken Brot für die Welt oder Caritas International.

Denn die unhaltbaren Lebensbedingungen, die zu Fluchtursachen mutieren können, sind nicht einfach gegeben, sondern geworden, politisch, von Menschen gemacht und also gestaltbar: Unfaire globale Handelsbedingungen, die Nichtbeachtung von Menschenrechts- und Umweltstandards bei Lieferketten oder wachsende weltweite soziale Ungleichheit gehören zu diesen Ursachen. Waffenlieferungen in Spannungs- gebiete und an Länder, die systematisch die Menschenrechte verletzen. Auch der unmäßige und rücksichtslose Ressourcen- und Energieverbrauch geht auf Kosten der armen Länder (vgl. Erklärung der Konferenz Diakonie und Entwicklung zur aktuellen Situation der Flüchtlinge, Oktober 2015)

Und die unbequeme Wahrheit ist, dass auch unser Lebensstil, unsere Gesellschaft und unsere Politik dazu beigetragen haben und immer noch beitragen, dass unzumutbare Lebensbedingungen entstehen, die zu Fluchtursachen mutieren können.

Selbstverständlich ist die Bekämpfung dieser unzumutbaren Lebensbedingungen keine nationale Aufgabe, sondern ebenfalls eine europäische und internationale Herausforderung von hohen Graden. Die Flüchtlinge sind nicht das Problem, sie sind die Opfer dieser ungelösten Probleme und zugleich sind sie Indikatoren für tieferliegende Probleme:

Wie die Flüchtlinge in Deutschland sichtbar gemacht haben, dass es schon lange Versäumnisse in der deutschen Wohnungsbau- und Bildungspolitik gab, macht uns die unfassbare Menge von 60 Millionen Flüchtlingen weltweit darauf aufmerksam, dass es verheerende Versäumnisse in der internationalen Wirtschafts- und Friedenspolitik gibt. Oder in der globalen Umweltpolitik.

Versäumnisse, deren Folgen wir alle zu spüren bekommen. Die Menschheit, die Weltgemeinschaft hat gemeinsame Ziele, die nur gemeinsam erreicht werden können. Die Ergebnisse aus New York, auf dem Weltklimagipfel in Paris weisen einen Lernweg der Menschheit in die richtige Richtung. Was ist weiterhin zu tun? Die Bundesregierung kann und sollte durch eine abgestimmte Politik aller zuständigen Ressorts an der Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele sowie an der Bekämpfung der anderen Ursachen von Flucht arbeiten. Dazu gehören eine Aufwertung der zivilen Krisenprävention und Konfliktbearbeitung, die Erhöhung der Mittel für Entwicklung, für Klimaanpassung und Kompensation von Klimaschäden sowie eine Handelspolitik, die andere Gesellschaften nicht von vornherein zu Verlierern macht (A.a.O).

Das ist eine gewaltige Agenda. Aber ihre Themen sind uns aber nicht erst seit gestern bekannt.

Damit das gelingt, braucht es auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens Menschen, die mit Fantasie, mit Liebe und mit Können die vielen kleinen und die großen Räder drehen, die ineinander greifen müssen, wenn es um die Erreichung dieses großen Ziels eines nachhaltigen und gerechten Friedens auf unserem Planeten geht.

Ich bin mir darüber im Klaren, dass die Bearbeitung dieser Probleme, die Erfindung und Einübung eines anderen Miteinanders, eines neuen Zusammenspiels in einer globalisierten Welt einen sehr langen Atem und neue Spielregeln braucht. Es braucht Zeit, unsere Ausdauer und Geduld. Es braucht unseren Mut, Neues zu denken und Veränderungen zuzulassen. Das lässt sich nicht mit einem Doppelklick erledigen.

Die zweite Facette des Wir: Wir sind Europäer.

Martin Schulz, der Präsident des Europaparlaments, hat kurz vor Weihnachten in der „Frankfurter Rundschau“ ein lesenswertes Interview gegeben: „Europa am Abgrund“ (vgl. Frankfurter Rundschau, 21.12.2015) titelte die Zeitung. Schulz zeigt sich aufs höchste besorgt über den Zusammenhalt in der Europäischen Union. Er sagt (ich zitiere): „Europa wird das Opfer seines eigenen Erfolgs. Die europäische Integration ist für mich einer der größten Zivilisationsfortschritte seit Jahrhunderten. Die Verschränkung von Ökonomien und Währungen, von wissenschaftlicher und kultureller Kooperation, von politischen Strukturen, haben zu einer Friedens- und Wohlstandsperiode ohne Vergleich in Europa geführt.“

Und er fährt fort:

„Diese unglaubliche Leistung wird inzwischen aber als gottgegeben hingenommen. Das führt dazu, dass die ursprüngliche Idee – der Kampf gegen den Nationalismus, die Einsicht, dass man gemeinsam stärker ist als allein, die wirtschaftliche Verknüpfung untereinander zum Wohle aller, die gemeinsamen humanisti- schen Werte – völlig aus dem Blickwinkel verschwunden ist.

So werden heute Nationalisten wie Le Pen gewählt, die dieses europäische Modell zerstören wollen. Und die glauben, mit der Rückkehr zur Welt von gestern in der Welt von morgen bestehen zu können. Das ist ein Irrtum“ (Frankfurter Rundschau, 21.12.2015). Ich stimme Martin Schulz ohne Einschränkung zu.

Wie Europa in den vergangenen Monaten und Jahren auf die Flüchtlingskrisen reagiert bzw. nicht reagiert, ist beschämend. Die Dublin-III-Verordnung funktioniert bereits seit Jahren wie ein menschenunwürdiger und ineffektiver Verschiebebahnhof für flüchtende Menschen in Europa. Sie ist gescheitert.

Wir können die EU-Länder am Rand unseres Kontinents, die zum Teil selbst mit dem wirtschaftlichen Überleben kämpfen, mit dieser Menge an Flüchtlingen nicht alleine lassen. Im Dezember 2015 sind von den vereinbarten 160 000 Flüchtlingen aus Italien und Griechenland gerade 184 in andere EU-Länder verteilt worden. 184. Von 11 geplanten Hotspots, in denen Flüchtlinge registriert werden sollen, sind ganze 2 in Betrieb (vgl. Süddeutsche Zeitung online, 17.12. 2015: Auf dem EU-Gipfel herrscht Frust über die Flüchtlingskrise).

Die nationalstaatliche Beschränktheit, mit der im Wortsinn aktuell eine Politik der Abschottung und der Ausgrenzung umgesetzt wird, kann überzeugte Europäer nur bestürzen. Zäune bauen und Grenzen abschließen? 25 Jahre nach dem Fall der Mauer? 70 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges, in und nachdem in Europa rund 60 Millionen Menschen ihre Heimat verloren und es zur größten Völkerwande- rung nach der Antike kam?

Das ist bestenfalls kleinkariert, es ist in Wahrheit ein beschämender Rückschritt, der hoffentlich nur ein vorübergehendes Phänomen vor einem gemeinsamen europäischen Lernschritt und einem grundlegenden Veränderungsprozess darstellt.

Und diese rückschrittliche, nationalistische Politik hat tödliche Folgen: Europas aktuelle Grenzschutzpolitik nimmt auch in Kauf, dass jährlich tausende Menschen an den EU-Außengrenzen sterben. Immer noch. Seit dem Jahr 2000 sind über 25.000 Menschen auf dem Weg über das Mittelmeer nach Europa umgekommen, von Januar bis Oktober 2015 allein über 3500 Menschen. Damit ist die europäische Außengrenze „die tödlichste Grenze der Welt“ (vgl. Hilfe für Flüchtlinge: Nicht Grenzen, sondern Menschen schützen. Politische Standpunkt des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung zur Flüchtlingsaufnahme in Europa, Oktober 2015.

Wir sind Europäer. Die Flüchtlingskrise bringt auch zu Tage, dass dieses „Wir“ sich keineswegs von selbst versteht. Auch dahinter steht eine immense Herausforderung.

Welches die europäischen Werte sind, die Herr Schulz „humanistisch“ nennt, darüber herrscht offenbar kein Konsens. Diese Werte sind vielmehr umstritten. Es gibt einen offenen Wertekonflikt mit einem neonationalistischen und teilweise antidemokratischen Zungenschlag – und das in einer Zeit, in der die Heraus- forderungen eine größtmögliche Einigkeit erforderten.

Umso wichtiger erscheint es mir, diese europäische Werte-Debatte – auch in den europäischen Kirchen – und Diakonieverbünden – offensiv zu führen. Ich zitiere noch einmal Martin Schulz: „Die EU ist ein Staatenverbund und die EU ist nur so stark, wie die Mitgliedstaaten es zulassen. Und eine Reihe von Mitgliedern will keine starke Union. Die wollen eine Geldverteilungsmaschine, die wollen einen Binnenmarkt, die wollen einen Steuerwettlauf nach unten, aber mit Sicherheit keine Gemeinschaftslösungen. Der Zynismus daran ist: Diese Staaten blockieren Europa und machen anschließend die EU für die Defizite verantwortlich. Leider fehlt derzeit der entschiedene Wille vieler Integrationsbefürworter, sich der Politik des nationa- len Alleingangs entgegenzustellen. Aber es ist Zeit zu kämpfen, wenn wir nicht wollen, dass das größte Zivilisationsprojekt der letzten Jahrzehnte vor die Hunde geht!“ (vgl. Frankfurter Rundschau, 21.12.2015)

Ich bin sicher, meine Damen und Herren, die Welt wird das Projekt Europa eines Tages daran messen, ob wir gemeinsam eine europäische Antwort auf diese humanitäre Jahrhundertkatastrophe der Fluchtbewegungen gefunden haben oder nicht. Die geringe Aufnahmebereitschaft vieler EU-Mitgliedsstaaten ist angesichts der humanitären Notlage der Flüchtlinge unvereinbar mit den Werten und rechtlichen Verpflichtungen, die zu einer EU-Mitgliedschaft gehören.

Wir brauchen eine neue europäische Flüchtlingspolitik, die sich am Maßstab des Menschenrechts auf Asyl orientiert.

Ich beschränke mich hier auf vier Eckpunkte die aus Sicht der Diakonie Deutschland unverzichtbar sind (vgl. Diakonie Deutschland: Europapolitische Kernforderungen, September 2015) – und die den Rahmen einer „Willkommenskultur“ in Europa markieren. (Sie erinnern sich – Willkommenskultur auf Rang 6 der Liste der Wörter des Jahres 2014)

  1. Europa muss Wege zur legalen Einreise ermöglichen. Die derzeitige Abriegelungspolitik treibt schutzlose Menschen alternativlos in die Hände von überwiegend kriminellen Schleusern. Jeder Zaun in Europa treibt die Preise dieser Fluchthelfer weiter in die Höhe. „Solange die Regierungen der EU keine legalen Fluchtmöglichkeiten schaffen, werden die Bilder und Berichte über das Massengrab Mittelmeer nicht enden. Die Zahl der Toten wird weiter steigen. Mindestens für die Fliehenden aus den akuten Krisengebieten wie Syrien und Irak fordern wir die sofortige visumfreie EU-Einreise, verbunden mit der Möglichkeit Asyl zu beantragen“ (vgl. Hilfe für Flüchtlinge: Nicht Grenzen, sondern Menschen schützen. Politische Standpunkt des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung zur Flüchtlingsaufnahme in Europa, Oktober 2015)
  2. Unverzichtbar scheint uns auch die sofortige europäische Aufnahme von mindestens 750 000 Menschen aus den Transitstaaten wie Libanon, Türkei und Maghreb mit einem vorübergehenden Aufenthaltstitel. Deutschland hat im Alleingang in den vergangenen beiden Jahren im Zuge der Familienzusammenführung durch humanitäre Aufnahmeprogramme rund 38.000 syrische Verwandte aufgenommen. Dies hat Menschenleben gerettet und eine geordnete und legale Einreise ermöglicht. Die Programme wurden nicht weiter geführt, da andere EU-Staaten diesem erfolgreichen Beispiel nicht gefolgt sind. Hier müssen die Länder mit den größten syrischen Communities in der EU – das sind eben Deutschland und Schweden – mit anderen EU-Staaten dringend weitere Maßnahmen ergreifen. Vgl. Diakonie Deutschland: Europapolitische Kernforderungen, September 2015)
  3. Im Interesse besserer Planbarkeit und zur Vermeidung von Weiterwanderungen sollte jeder Schutzsuchende in der EU im Rahmen von festgelegten Kontingenten und nach obligatorischer Beratung sein Zufluchtsland einmal selbst wählen dürfen. Dazu bedürfen die flüchtenden Menschen aber realistischer Informationen über die in Frage kommenden Zielländer. Eine befristete Aufenthaltsgenehmigung muss in Registrierungs- und Beratungszentren erteilt werden, die es den Flüchtlingen erlaubt, legal in das europäische Land zu gelangen, in dem sie einen Asylantrag stellen wollen. Solche Zentren sollten statt der geplanten Hotspots möglichst dort eingerichtet werden, wo es bereits Orte der Versorgung gibt, die durch zivilgesellschaftliches Engagement entlang der Flüchtlingsroute entstanden sind. Nur in Verbindung mit Angeboten werden sich Menschen, die auf der Flucht ihr Leben riskieren, zur Registrierung und verbindlicher Verteilung bereit erklären (A.a.O).
  4. Flankierend dazu bedarf es unbedingt eines verpflichtenden UNHCR-Resettlements, also eines Neuansiedelungsprogramms mit jährlichen Kontingenten in jedem EU-Staat. Jedes EU-Land muss mittelfristig Flüchtlinge aus Transitstaaten aufnehmen und bis zu einer bestimmten Frist eine festes, aber realistische Kontingent für Aufnahmeplätze mit vergleichbaren Standards benennen, das jährlich in einem geordneten UNHCR-Verfahren europäisch organisiert wird (A.a.O).

Mittel- und langfristig muss die europäische Flüchtlingspolitik so gestaltet werden, dass ein System entsteht, in dem die Mitgliedsstaaten der EU je nach Leistungsfähigkeit gemeinsam Verantwortung übernehmen.

Man darf nicht aufhören, sich dafür einzusetzen – auch wenn vor allem Staaten aus Osteuropa Schwierigkeiten haben, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen.

Ziel muss sein, dass alle Staaten einheitliche europäische Asylrechtsstandards anwenden. Dazu sind schon heute alle EU-Mitgliedsstaaten verpflichtet. Um diese Herausforderung zu bewältigen, müssen die Mitgliedsstaaten in der europäischen Union neue Prioritäten setzen. Staaten, die derzeit noch nicht in der Lage sind, die Asylrechtsstandards umzusetzen, brauchen Unterstützung.

In der Konsequenz heißt das: So lange noch nicht alle Länder Flüchtlinge in ausreichendem Maße aufnehmen und integrieren können, müssen die starken Länder in Europa in Vorleistung gehen (vgl. Presseinformation Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz; Diakonie Deutschland, EKD: Flüchtlinge nicht abschrecken, sondern versorgen, registrieren, beraten. 30. September 2015)

Ja. Diejenigen, die eine Willkommens- und Ankommenskultur in Europa wollen, werden bei `begrenzten Möglichkeiten` einen langen Atem und ein„ offenes Herz“ brauchen. (Rede von Bundespräsident Gauck am 3.10. 2015 in Frankfurt). Es müssen Prozesse auf verschiedenen Ebenen gesellschaftlichen Handelns in Gang gesetzt werden: Nicht nur die Politik, auch die europäischen Kirchen, die europäischen Verbände und die Zivilgesellschaft in Europa sind hier gefragt.

Und damit komme ich zur dritten Facette dieses neuen Wir:

Wir sind Deutsche.

„Was ist deutsch?“ – fragt die Süddeutsche Zeitung in einer lesenswerten Reihe in diesen Tagen Deutsche aus Ost und West, Wissenschaft und Praxis. Der Schriftsteller Martin Mosebach antwortet freimütig: „Hundert Antworten fallen mir auf diese Frage ein – keine hält einer Überprüfung stand.“ ( Süddeutsche Zeitung,5./6. Januar 2016, S.9)

Das Deutscheste an Deutschland ist vielleicht die deutsche Sprache. Auch sie unterliegt einem ständigen Wandlungsprozess. Neben dem sogenannten bundesdeutschen Hochdeutsch, steht die schweizerische und österreichische Variante. Zu den hochdeutschen Formen gesellen sich zahlreiche Dialekte. Gerade Baden-Württemberg ist besonders reich an Mundarten. Je nach dem, wo ein Mensch Deutsch lernt, formt sich seine Sprechmelodie und sein Wortschatz.

Wir werden in den kommenden Jahren unter uns Menschen entdecken, deren Muttersprache arabisch ist und die deutsch mit einem fränkischen, schwäbischen, sächsischen oder kölschen Zungenschlag sprechen. Ich finde, das ist eine bereichernde Aussicht. – Und doch stellen die Wirklichkeiten, die mit diesem Phänomen Hand in Hand gehen werden, eine langfristige Herausforderung für unser Selbstverständnis und Miteinander in Deutschland dar.

Bleiben wir noch ein wenig bei der Sprache: Wie bereits eingangs erwähnt: Die Gesellschaft für Deutsche Sprache hat „Flüchtling“ zum Wort des Jahres 2015 gekürt. In der Begründung liest man: „Das Substantiv steht nicht nur für das beherrschende Thema des Jahres, sondern ist auch sprachlich interessant. Gebildet aus dem Verb flüchten und dem Ableitungssuffixling (›Person, die durch eine Eigenschaft oder ein Merkmal charakterisiert ist‹), klingt Flüchtling für sprachsensible Ohren tendenziell abschätzig: Analoge Bildungen wie Eindringling, Emporkömmling oder Schreiberling sind negativ konnotiert, andere wie Prüfling, Lehrling, Findling, Sträfling oder Schützling haben eine deutlich passive Komponente. Neuerdings ist daher öfters alternativ von Geflüchteten die Rede. Ob sich dieser Ausdruck im allgemeinen Sprachgebrauch durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.“ (www.gfds.de/wort-des-jahres-2015)

Abwarten ist eine mögliche Position. Schauen was passiert. Analysieren. „Es bleibt abzuwarten.“ Diese Formulierung erweckt den Eindruck, es sei möglich am Rand zu stehen, sich aus dieser Entwicklung herauszuhalten. Von einem quasi neutralen Standpunkt aus zu beobachten, was vor sich geht: Werden aus Flüchtlingen Geflüchtete? Werden aus Fremden Nachbarn? Entsteht ein neues Wir?

Sicher, es braucht auch die Beobachter, sicher die kritischen Medien, die bitte nichts schönschreiben sollen, aber noch mehr – so scheint mir – braucht es in diesen Zeiten, Gestalterinnen und Gestalter, Kümmerer, Schrittegeher und Richtungsweiser. Es braucht visionäre Realisten.

Vielleicht gelingt es uns ja, den Habitus des Schauens und Analysierens mit dem des Handelns und Gestaltens in eine Balance zu bringen? Gemeinsame öffentliche Orte zu etablieren, an denen wir unsere neuen – auch die schwierigen! – Erfahrungen miteinander diskutieren und auswerten, Korrekturen und neue Ideen zulassen. Dazu braucht es auch einen Mut zur Improvisation, eine Kultur der Improvisation. Ich komme darauf zurück.

Wie geht es „uns“ Deutschen mit dem Flüchtlingsthema? Das wollten wir in EKD und Diakonie genauer wissen und haben darum im November 2015 eine repräsentative Studie in Auftrag gegeben (http://www.ekd.de/download/20151221_si-studie-fluechtlinge.pdf). Ihr Ergebnis: Die Stimmung in unserem Land ist besser als ihr Ruf. Das Engagement für Flüchtlinge ist nach wie vor sehr hoch: Mehr Menschen als im Sport in unserem Land engagieren sich ehrenamtlich für die Aufnahme und die Integration der Geflüchteten. Viele von ihnen machen positive Erfahrungen mit den Neuankömmlingen, fast 70 Prozent der Befragten meinen, dass Deutschland durch den Umgang mit den Flüchtlingen an Ansehen in der Welt gewänne. Weiterhin erwarten rund 60 Prozent der Befragten, dass die Alterung der Gesellschaft weniger gravierende Folgen haben werde. Noch mehr erwarten eine kulturelle Bereicherung.

Daneben stehen aber auch große Sorgen, die ernst zu nehmen sind: Interessanterweise beziehen sich diese in erster Linie aber auf die Einheimischen – 85 Prozent befürchten, dass „der Rechtsextremismus wachsen wird“. 77 Prozent glauben, dass die Schwierigkeiten bei der Suche nach bezahlbarem Wohnraum zunehmen werden. Außerdem erwarten rund 70 Prozent staatlichen Einsparungen in anderen Bereichen und mehr als 50 Prozent fürchten, dass soziale Standards unterlaufen werden und geringer qualifizierten Einheimische keine Jobs mehr finden. Daneben treten kulturelle Ängste: Immerhin 40 Prozent glauben die muslimische Kultur würde unseren Alltag dominieren, 70 Prozent erwarten ein Anwachsen der Zahl extremistischer Muslime.

Interessant fand ich, dass zwar mehr als 70 Prozent der Befragten meint, dass die Kirche sich für die Aufnahme der Flüchtlinge einsetzen solle. Ebenso viele finden aber auch, dass Kirche sich vor allem um die einheimischen Gläubigen kümmern sollte. Und immerhin 37 Prozent erwarten, dass die Kirche sich stärker gegen den Islam abgrenzen sollte.

Wir in Kirche und Diakonie haben uns durch diese Studie bestärkt gefühlt. Die Richtung, in die wir gehen, trifft auf Zustimmung. Insgesamt kann man sagen, dass die Deutschen offen für Flüchtlinge bleiben, wenn die Einheimischen den Eindruck gewinnen, dass die eigenen sozialen Rechte nicht beinträchtigt werden und die kulturelle – auch christliche – Identität erkennbar bleibt. Daran gilt es zu arbeiten. Mit Begegnungsprojekten, mit Dialogen zwischen Christen und Muslimen, zwischen religiös Unmusikalischen und Gläubigen und öffentlichen Diskursen auch über die schwierigen Aspekte und die aktuellen Probleme.

Vielleicht haben wirklich eine Million Männer, Frauen, Jugendliche und Kinder im Jahr 2015 in Deutschland Zuflucht gesucht. Es werden im Jahr 2016 noch mehr werden. Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten, Menschen „im Panikmodus“.

Doch es kommt kein „geschlossener Block“, kein Stoßtrupp einer „fremden“ Kultur oder Religion mit gezielten Übernahmeabsichten, wie es rechte Verschwörungstheoretiker gerne schwarz oder braun malen.

Es kommen nach wie vor sehr unterschiedliche Menschen: Fleißige und sicherlich auch Faule, Kluge und Nicht-so-Kluge, Schüchterne und Realistinnen. Es kommen Lustige und Launische, Unsportliche und Talente, Religiöse und Nichtreligiöse; Künstler, Ingenieure und Hebammen, Studentinnen und Arbeiter. Und es kommen auch viele arabisch sprechende Männer und Frauen, die weder lesen noch schreiben können. Unbegleitete junge Männer, die als Erste losgeschickt werden.

Es kommen sicher auch Kriminelle. Nur ist deren Anzahl unter den Flüchtlingen eben nicht höher als unter der einheimischen Bevölkerung, wie eine aktuelle Untersuchung des Innenministers in diesen Tagen belegt hat.

Etwa ein Drittel von ihnen ist schwer traumatisiert und benötigt dringend eine Traumatherapie, ein Drittel könnte mit einer unterstützenden Basisversorgung gut leben. Und ein Drittel verfügt über eine hohe Resilienz, das heißt, diese Menschen sind in der Lage ihre Erfahrungen alleine zu verarbeiten und können nach vorne denken. Werden sie Deutschland verändern? Selbstverständlich werden sie das.

Es kommen Menschen mit ihren Träumen und Wünschen, mit Ängsten und Sorgen, mit ihren Kindern, denen sie eine bessere Zukunft wünschen. Und: Viele werden bleiben. Aber auch das muss keine Drohkulisse sein.

Erinnern Sie sich noch an das Deutschland der Fünfzigerjahre? An eine Gesellschaft, in der Sie selber oder ihre Eltern, vielleicht sogar Großeltern aufgewachsen sind? Das war eine völlig andere Welt.

In Westdeutschland – ein Deutschland des VW-Käfers, der neu entstehenden Italiensehnsucht, eine Welt, in der Ehemänner noch über die Berufstätigkeit ihrer Frauen bestimmen durften; in der Gyros unbekannt war und Pizza exotisch, in der ein Film wie „Die Sünderin“ mit Hildegard Knef eine Zensurdebatte nach sich zog. Ein Land, in dem es normal war, Kinder zu schlagen. Und in dem heute gerne vergessen wird, wer das Wirtschaftswunder damals finanziert hat.

In Ostdeutschland – gab es den Trabant, es gab dogmatische Auseinandersetzungen um den richtigen Sozialismus, es gab Arbeiter- und Bauern-Rhetorik, das Gesetz zum Schutz des Volkseigentums, billige Grundnahrungsmittel – aber nur auf Bezugskarte.

Wie fremd erscheint es uns das heute. Wie anders ist dieses Deutschland heute geworden. Unser Land hat sich im zurückliegenden Jahrhundert immer wieder neu erfinden müssen. Ich bin überzeugt, diese Fähigkeit‚ sich neu zu erfinden, ist auch ein Schlüssel zu unserem heutigen Erfolg.

Die Aufnahme von Flüchtlingen und ihre gelingende Integration ist eine Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft. Die Integration dieser Menschen beginnt mit dem ersten Tag. „Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.“ Ob aus dem Willkommen ein Ankommen wird, entscheidet sich nicht erst in ferner Zukunft, diese Weichen werden heute gestellt. Die Integration beginnt am ersten Tag. Bereits die Umstände der Ankunft sind entscheidend.

Was in dieser Hinsicht in den vergangenen Monaten in Deutschland von vielen Hauptamtlichen auch in den Ämtern geleistet wurde, verdient unsere Wertschätzung – das LaGeSO in Berlin ist glücklicherweise eine Ausnahme.

Was aber zugleich von zigtausenden Freiwilligen geleistet wurde, ist gar nicht hoch genug zu schätzen. Übrigens auch unter dem Aspekt eines freundlichen und humanen Deutschlandbildes, das weltweit Anerkennung und Achtung findet.

Während die Debatten über Grenzschließungen, den Zuzug von Familienangehörigen, das Einrichten von Transitzonen oder Willkommenszentren tobten, während PEGIDA hetzte und der Ton zwischen den politischen Parteien immer gereizter wurde, kamen Tag für Tag Tausende erschöpfte Menschen an und wurden freundlich in Empfang genommen.

Was brauchen sie? Sofort: Unterkunft, Essen, Winterkleidung, medizinische Grundversorgung. Einige: Angebote zur Traumabewältigung und psychologische Unterstützung ( nicht alle). Kurzfristig und Mittelfristig sind sie angewiesen darauf, dass ihre Fähigkeiten und Potentiale gewollt und gefragt sind; auf einen raschen Zugang zu Kindertagesstätten, zu den Schulen oder Ausbildungen. Darum müssen Sprach- und Integrationskurse sofort nach der Aufnahme hohe Priorität haben. Eine möglichst schnell dezentrale Unterbringung jenseits von Massenunterkünften ist förderlich. Und selbstverständlich sind diese Menschen zunächst auf aktive Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche angewiesen, auf schnelle Möglichkeiten zu Praktika etc. Die neu ermöglichten Freiwilligendienste für Geflüchtete von Geflüchteten (10.000 BFD-Plätze) sind ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Ganz dringend aber brauchen die geflüchteten Menschen, die bei uns Schutz suchen, andere Menschen: Freundinnen und Freunde, Bekannte, Kollegin- nen und Kollegen, Nachbarn. Vielleicht auch einmal: Familie.

Auch deswegen ist es so bedeutend, dass die Integrationsarbeit auf den Schultern vieler liegt. Der Ruf nach Professionalisierung ist berechtigt und verständlich. Doch das unglaubliche Engagement der Ehrenamtlichen bleibt unbezahlbar und wertvoll:

Es legt den Grund für ein wechselseitiges Kennenlernen und Schätzen – denn hier wachsen Beziehungen, nicht nur Beziehungen zwischen Alt-Einwohnern und Neu-Einwohnern. Sondern auch Beziehungen zwischen alteingesessenen Menschen, die sich ohne die Ankunft der Flüchtlinge nie kennengelernt hätten. Aktuell entstehen viele neue Netzwerke zwischen Institutionen, Parteien, Kirchengemeinden, Sport- Vereinen, Theatern – Organisationen, die lernen, ihre Bemühungen zu koordinieren. All diese Beziehungen bilden die Basis für ein neues gesellschaftliches Wir, an dem wir arbeiten müssen, über das wir sicher auch immer wieder zu streiten haben.

Auch in Zukunft werden sich Menschen begeistern lassen für diese Aufgabe. Aber eine nachhaltige Kultur des Ehrenamts – das wissen wir in der Diakonie mit 750.000 bürgerschaftlich Engagierten schon seit langem – braucht auch eine professionelle Koordination und Förderung.

Die Haupt – Integrationsfelder Wohnung, Sprache, Schule und Arbeit müssen mehr oder weniger gleichzeitig bearbeitet werden. Dazu sind schnell erhebliche Investitionen nötig: im Sozialen Wohnungsbau wie beim Ausbau von Schulen und Kindertagesstätten. Das wird nur gelingen und sich auszahlen, wenn Staat, Land und Kommunen, aber auch Verbände und Zivilgesellschaft noch stärker zusammenarbeiten. Was dafür notwendig ist – und das ist vielleicht die größte Veränderung, die Deutschland erleben wird – ist eben eine neue Kultur der Zusammenarbeit und der Improvisation. Ich meine, dass wir neu lernen werden, uns auf Prozesse einzulassen, deren präziser Verlauf und Ausgang nur schwer vorherzusagen ist. Wir werden lernen – seemännisch gesprochen -, auf Sicht zu fahren.

Ich denke in der letzten Zeit oft an den Hamburger Pfarrer Sieghard Wilm, der gemeinsam mit Kollegen und Gemeinde seine Kirche auf St. Pauli schon vor zwei Jahren spontan für eine Gruppe westafrikanischer Lampedusaflüchtlinge geöffnet hat. Sein Engagement hat damals bundesweit für Aufmerksamkeit gesorgt.

180 Nächte schliefen, ja, lebten zum Teil 80 Männer in der Kirche. In einem Interview erzählt Wilm, dass er keine Ahnung gehabt hätte, was auf ihn zukommen würde – an Seelsorge, an politischer Arbeit, an logistischen Aufgaben und und und … Dass ihm aber klar gewesen sei, dass er diese Männer aus der Kirche nicht einfach wegschicken konnte.

Er musste improvisieren. Schritt für Schritt gehen. Jeder Schritt warf neue Schwierigkeiten auf, brachte neue Frage – aber auch neue Antworten, neue Unterstützung. Ein ganzer Kiez geriet so in Bewegung. Trotz anfänglichem Chaos, so Wilm, sei es gelungen, Schritt für Schritt eine strukturierte Hilfe aufzubauen. Insgesamt seien 250.000 Euro Spendengelder verwendet worden, über 200 Ehrenamtliche hätten mehr als 25.000 Stunden Hilfe geleistet. „Unsere Kirche war wohl die einzige in Hamburg, die ein Jahr lang 24 Stunden pro Tag offen stand“, sagt Wilm (vgl. Hamburger Abendblatt, 31.12.2013.18)

Was hat diesen Prozess ermöglicht:

  1. Viel Arbeit, vor allem unbezahlte Arbeit: Wer ausschließlich in monetären Kategorien denkt, wird gar nicht anfangen, irgendetwas etwas zu tun. Dabei ist diese Arbeit unbezahlbar, sie ist ein Gewinn an Menschlichkeit, an Liebe, an Streitkultur, an Hori- zonterweiterung, an Hoffnung und an Hilfsbereitschaft. Es ist ein Netz aus Geben und Nehmen gewoben worden – wobei die Flüchtlinge keineswegs nur „nehmend“ sind.
  1. Keine Angst vor dem Regelbruch: Es gibt Zeiten, in denen kann es verkehrt sein, nur danach zu fragen, ob etwas erlaubt ist. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich propagiere keinen Aufruf zum Rechtsbruch. Aber es gibt eine Art der Bedenkenträgerei, die der Menschlichkeit auf schreckliche Weise im Weg steht:

Ist es erlaubt, dass 80 Männer in einem Kirchraum übernachten? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich gibt es feuerpolizeiliche, hygienische, versicherungsrechtliche – vielleicht sogar theologische – Argumente, die dagegen sprechen. Es ist gut, dass diese Argumente die Hilfsbereitschaft nicht verhindert haben.

Das meine ich unter anderem mit Kultur der Improvisation. Eine Kultur aus Geistesgegenwart und gesundem Menschenverstand, aus dem Stehgreif etwas darzustellen oder herzustellen. Ungewohnte Allianzen einzugehen. Nicht zu verzweifeln, wenn Lösungen nicht sofort auf der Hand liegen. Auch nicht, wenn nicht alle Mittel vor Beginn zur Verfügung stehen.

Ich meine die Geisteshaltung der Bastler und Tüftler, aber auch die der Wandersleute und Globetrotter. Die verstehen mit dem wenigen, was sie bei sich haben, Leben zu gestalten und Herausforderungen zu begegnen.

Ich meine die Erfahrungen der Rollenspieler am Computer, die mit ihrem Avatar und seinen Fähigkeiten und Ausrüstungsgegenständen, unbekannte Abenteuer bestehen.

Die Köchin, die vor einem fast leeren Kühlschrank steht und doch ein schmackhaftes Gericht herzustellen vermag. Die berufstätigen Eltern von Kindern, diese ganz großen Abenteurer unsere Tage und deren Im- provisationsgaben.

Und ich meine nicht zuletzt die Menschen, die unter den Lebensbedingungen der DDR – trotz Mangelwirtschaft – nicht müde wurden, nach praktikablen Lösungen für die Alltagserleichterung zu suchen. In unserem Land gibt es unzählige Männer und Frauen, die über einen reichen Erfahrungsschatz in Improvisation verfügen. Lassen Sie uns diesen Schatz unserer Zivilgesellschaft neu entdecken! Selbstverständlich wer- den wir auch über manche gewohnte Standards sprechen müssen. Und ohne unsere Bereitschaft zum Verzicht wird es nicht gehen.

Größere Gruppen in Kindertagesstätten oder Schulklassen werden kaum zu vermeiden sein. Es gibt viele Architekten, die hoffen, dass die Flüchtlinge Bewegung in die deutsche Wohnungskrise bringen. Kostengünstiger Wohnraum, neue Gemeinschaftwohnkonzepte stellen aber auch gewohnte Planungsverfahren in Frage (vgl. Spiegel online vom 6.12. 2015)

In Köln ist der Umbau des ehemaligen KlarissenKlosters zu einer Wohnanlage für Flüchtlinge und andere Mieter fast am Denkmalschutz gescheitert. Zum Glück gab es zähe und improvisationsfreudige Menschen in Rathaus, in der Kirche, Wohnungsbaugesellschaft, Bauaufsicht, Stadtplanung, Denkmalschutz, Woh- nungsamt und dem beteiligten Architekturbüro, die trotzdem in einen Verhandlungsprozess eingestiegen sind. Wenn alles gut geht, kann der Umbau Anfang dieses Jahres beginnen (vgl. Neue Caritas 22 / 2015).

Diese Beispiele lassen sich zahlreich fortsetzen. Und nicht nur uns Alteingesessenen wird eine neue Improvisationskultur, aber auch der Respekt vor dem Fremden, ein offenes Herz und ein langer Atem abverlangt: Wir dürfen, ja, müssen von den Neuankömmlingen dasselbe erwarten können.

Deutschland ist nicht das Gelobte Land, in dem quasi von selbst Wohlstand für alle herrscht. Dass unser fördernder und fordernder Sozialstaat funktioniert, verdankt sich einem langen historischen Prozess und zahlreichen Anstrengungen aller Bürgerinnen und Bürger tagtäglich.

Das bleibt Menschen, die aus tief zerrütteten, von Krieg zerstörten Gesellschaften zu uns kommen, oft verborgen. Viele kennen aus dem Internet, aus dem Fernsehen nur eine funkelnde Oberfläche unserer Konsumgesellschaft und tragen eine undifferenzierte Sehnsucht nach einem Leben in sich, das an diesem Glanz Anteil haben möchte.

Das ist verständlich. Aber unrealistisch. Wir dürfen von den Menschen, die kommen und bleiben wollen Realismus erwarten. Wir dürfen Forderungen stellen:

Die deutsche Sprache muss gelernt werden – ohne Deutschkenntnisse gibt es keine Integration.

Die Werte des Grundgesetzes müssen als Fundament unserer Gesellschaft von allen Menschen, die hier leben wollen, anerkannt werden; denn auf ihnen ruhen der Frieden und die Sicherheit, die Geflüchteten bei uns suchen.

Wir dürfen von Ihnen auch verlangen, dass sie mit ihrer Religiosität einen Platz in unserem säkularen Gemeinwesen finden.

Wir dürfen voraussetzen, dass unser Strafrecht akzeptiert bzw. angewendet wird, wenn eine Straftat begangen wird. Wie jetzt nach den schrecklichen Übergriffen in Köln.

Es ist inakzeptabel, dass Frauen und Mädchen um ihre Sicherheit fürchten müssen. Die Chefredakteurin des WDR Sonia Mikich, hat in den Tagesthemen klare und passende Worte gefunden: „Wir brauchen nicht Hetze, sondern Hirn und Härte“, stellt sie klar. „Niemand, egal welcher Herkunft, welcher Kultur, welcher Motivlage, welchem Promillegrads, darf straflos solches machen. Das ist nicht Generalverdacht, sondern Generalvernunft und steht im Gesetz.“ – Und ich schließe mich ausdrücklich an: Das muss auch polizeilich durchgesetzt werden.

Wir dürfen, ja, wir müssen Respekt und Toleranz einüben und einfordern. Und wenn ich „Wir“ sage, meine ich die Menschen, die Gartenzwerge sammeln genauso wie Drag Queens, die auf dem Christopher Street Day tanzen, ich meine islamkritische Autorinnen wie Necla Kelek und bekennende evangelikale Christen wie Peter Hahne. Die ganze Bandbreite in unserer Bevölkerung.

Die Presse ist frei. Die Kunst ist frei. Und Frauen dürfen selbst bestimmen, welchen Beruf, welche Lebens- form sie wählen und welche Rocklänge sie bevorzugen.

Über all das und noch ganz andere Themen werden wir – nicht nur mit Geflüchteten! – immer wieder ins demokratische Gespräch kommen. Und immer wieder auch neu zu streiten haben. Das ist mühsam – aber das ist lebendige Demokratie!

Wenn uns diese nicht vermeidbare, sondern zu führende demokratische Auseinandersetzung gelingt, werden in Deutschland in einigen Jahren mehr deutsche Nachrichtensprecher mit arabischem Vornamen, mehr geschätzte Altenpflegekräfte mit syrischen Wurzeln und tief verwurzeltem Respekt vor den Alten und Busfahrerinnen mit somalischen Großeltern leben.

Sicher gibt es dann neben den christlichen und jüdischen Wohlfahrtsverbänden auch einen muslimischen Wohlfahrtsverband. Möglicherweise wird in den Nachrichten nicht mehr nur „Frohe Weihnachten“ gewünscht, sondern auch ein „Schönes Zuckerfest“ oder ein „Gutes neues Jahr für unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger“. Bedroht das unser christliches Abendland? Ich kann das nicht erkennen. Natürlich: Wir werden auch irakische Strafgefangene, libanesische Rassisten in unseren Reihen haben. Neben christlichen Fundamentalisten, die ihre Kinder nicht in staatliche Schulen schicken mögen, finden sich muslimische Eltern, die mit den Lehrern ihrer Tochter über den Schwimmunterricht streiten.

Ja, Deutschland wird sich mit den Zugewanderten weiterhin verändern, sehr geehrte Damen und Herren. Aber wir verfügen über historische Erfahrungen und viele Möglichkeiten, diese Veränderungen aktiv mitzugestalten, wenn wir bereit sind, uns aktiv mit einzubringen. Wir können viel tun und werden Neues lernen – nur eines sollten wir unbedingt sein lassen: Nichts zu tun und stattdessen Kassandrarufe abzusetzen.

Flüchtling, Willkommenskultur, Lichtgrenze

Ich möchte noch einmal auf den alten syrischen Text aus dem Matthäusevangelium zurückkommen. Bitte sehen Sie einem evangelischen Pfarrer nach, wenn er jetzt doch ein wenig predigt: „Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.“

Es gibt wenige Bibeltexte, die wache Christenmenschen so ins Herz treffen, so beunruhigen können, wie die berühmte Passage über das Weltgericht im Matthäusevangelium, aus dem diese Zeile stammt.

Es geht hier nicht um die Frage, was muss ich tun, um ein guter Mensch zu sein. Es geht auch nicht um die Frage, wie ich angesichts des Elends in der Welt mein schlechtes Gewissen loswerde.

Wer das Gleichnis vom Weltgericht liest oder hört, spürt vielmehr, dass wir – nicht wir Christen, sondern wir Menschen – unser Leben, ja den lebendigen Gott verfehlen könnten. „Ich bin fremd gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.“

Wer sich für einen Moment zum Gastgeber dieser Zeile macht, wer bei ihr verweilt und sich ihr aussetzt, wer sich von ihr zur Rede stellen lässt, spürt in großer Klarheit ihre reinigende Kraft: Menschen können Gott selbst verfehlen, wenn sie die Fremden neben sich nicht wahrnehmen, aufnehmen, die Hungrigen nicht speisen, den Durstigen nicht zu trinken geben. Das hatte schon immer einen Preis, damals für den barmherzigen Samariter wie heute für die reiche Bundesrepublik Deutschland. Wird sich Deutschland durch die Flüchtlingskrise verändern? Ja. Können wir das schaffen? Ja.

Die Lichtgrenze von 2014 – so habe ich eingangs gesagt – ist auch ein eindrucksvolles Sehnsuchtsbild für einen neuen Umgang mit Grenzen gewesen. Dass sie durchlässig werden, dass sie der Geschwisterlichkeit der Menschen nicht mehr im Weg stehen.

Es ist uns und den uns nachfolgenden Generationen zu wünschen, dass wir in der nächsten Generation, in gut 35 Jahren, im Jahr 2050 in Deutschland wie in Europa und auf der Welt wieder Feste feiern werden, weil wir im Jahr 2016 wie im Jahr 2015 dazu gelernt haben. Menschlichkeit bewiesen und unser begrenztes Denken für eine globalisierte, friedlichere, gerechtere und zukunftsfähige Welt für alle Menschen geöffnet haben.

Einer der großen philosophischen Geister, der auch die Geschichte dieser Akademie mit geprägt hat, ist Ernst Bloch. Im Vorwort seines Hauptwerkes `Das Prinzip Hoffnung` schreibt er: „ Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern.“( Das Prinzip Hoffnung, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1979, Frankfurt am Main Band 1, S.1)

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen ein gesegnetes und friedliches Jahr 2016.