Unerhört! Dieses Gedicht!

Die U-Bahn Station Hellersdorf im Berliner Stadtteil Marzahn ist von einem kleinen Park umgeben: ein Angstraum, vor allem nachts oder in der Dämmerung morgens und abends.

Sieht tagsüber friedlich aus – die U-Bahnstation in Hellersdorf © A. Savin, Wikimedia Commons via

Nicht nur Kinder und Frauen nehmen dann lieber einen weiten Umweg über die beleuchteten Straßen in Kauf. Zu gefährlich sei diese Grünanlage, so Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Die Linke) kürzlich bei einem gemeinsamen Spaziergang durch ihren Wahlkreis Marzahn-Hellersdorf. Menschen aus 128 Nationen leben hier, berichtet sie. Ein Großteil von ihnen beziehe Hartz IV Leistungen. Die eher schlichten Wohnungen gelten als billig, seien aber häufig in einem sehr schlechten Zustand.

Neben dem kleinen Park, für dessen Beleuchtung sich das Büro Pau derzeit auch einsetzt, findet sich der Gebäudekomplex der Alice Salomon Hochschule. In den vergangenen Monaten konnte man in überregionalen Medien oft über sie hören und lesen. Der Grund: eine recht absurde Debatte um das Gedicht „avenidas“ von Eugen Gomringer an der Südfassade. Ich hatte einiges davon wahrgenommen, aber mir nie wirklich klar gemacht, in welchem sozialen Umfeld dieser deutschlandweit geführte Streit um den angeblich frauenfeindlichen Text und die geforderte Neugestaltung der Fassade sich entzündet hatte. Die Menschen in Marzahn und ihre Lebensumstände spielten für die Streitenden jedenfalls keine Rolle, wenn ich mich recht erinnere. Ein sprechendes Beispiel für eine Variante des Themas Parallelgesellschaft.

Dabei ist Petra Pau sehr froh über die Hochschule mit ihren vielen Studiengängen zu den Bereichen soziale Arbeit, Gesundheit, Erziehung und Bildung mitten in ihrem abgehängten Stadtbezirk: „Gott sei Dank machen viele der Absolventinnen und Absolventen ihre Praktika und Anerkennungsjahre bei uns, sonst wäre die Lage noch desaströser.“ Wir beginnen unseren Spaziergang durch die unmittelbare Umgebung der Hochschule mit einem Besuch in ihrem Stadtteilbüro an der Henny-Porten-Straße. Morgens war Bürgersprechstunde. Die Erinnerungen sind noch frisch: Pau erzählt von einer alleinerziehenden Mutter, die sich mit vier sporthochbegabten Kindern durch ihr Leben schlägt. Tapfer, denke ich. Einer der Söhne gehört inzwischen als Fechter zwar zur Jugendnationalmannschaft, muss aber jedes Mal, wenn er eine Prämie von 50,00 Euro für einen Sieg bekommt, das Geld beim Jobcenter abgeben. Überhaupt scheint aus Behördensicht das aufwändige Training mit dem schulischen Werdegang des Jungen zu kollidieren. Er sei aufgefordert worden, sich zu entscheiden. Wie nah liegen Erfolg und Beschämung nebeneinander.

Eine andere Besucherin, eine „DDR-Witwe“, die von einer Rente von nur 600 Euro im Monat lebt, habe endlich entschieden, sich von ihrem alkoholkranken Sohn zu trennen, mit dem sie seit Jahren zusammenwohne. Sie hätte ein Recht auf Unterstützung, aber sie möchte nicht zum Amt zu gehen. Sie habe auch ihren Stolz. Und das sind nur zwei Hellersdorfer Geschichten. Viele ihrer Besucherinnen und Besucher, berichtet Petra Pau, klagten über Mieterhöhungen, auch darüber, dass sie mit ihren kleinen Renten inzwischen die ÖPNV-Kosten nicht mehr aufbringen könnten und so nicht mal kurzfristig, aus diesem Stadtteil mit all seinen Herausforderungen und Zumutungen herauskämen. Die einen benötigen wegen Sprach- und Rechtschreibeschwierigkeiten Hilfe beim Ausfüllen der umfangreichen Bögen für die Ämter, andere brauchen Hilfe, um überhaupt herauszufinden, welche Behörde für sie zuständig ist. Der Alltag ist ein ständiger Kampf.

Soziale Kälte und Wut

Bei unserem anschließenden Spaziergang fährt uns der winterlich kalte Ostwind ins Gesicht. Wir schlendern durch merkwürdig leere Straßen. Für mich strahlt das Viertel eine spürbare soziale Kälte aus: Selbst an diesem sonnigen Nachmittag wirken die Grünflächen und Gehwege zwischen den Häusern verwaist. Die meisten Ladenlokale stehen leer oder sie beherbergen gemeinnützige Beratungsstellen – für Spätaussiedler zum Beispiel oder für Roma. Am Stadtteilbüro mit Quartiersmanagement mahnt auf der Glastür ein handgemaltes Schild: „Bitte, treten Sie sich sauber die Füße ab, bevor Sie eintreten!“ An der gegenüberliegenden Ecke wartet ein Spielmobil auf Kinder. Meine Gesprächspartnerin, die selber seit fast 30 Jahren in Marzahn zuhause ist, berichtet, wie wichtig hier jedes noch so kleine Engagement sei. Doch die meisten Menschen lebten allerdings nebeneinander her, schlügen sich durch. Die Sprachbarrieren seien trennend, kulturelle Welten prallten jeden Tag aufeinander. Wir kommen an einem verlassenen Urban-Gardening-Projekt vorbei: alte Hoch- und zertretene Pflanzenbeete. Die Früchte, Kräuter und Pflanzen waren zwar für alle Bewohnerinnen und Mitbürger gedacht, aber die Wut der Jugendlichen, die sich nachts hier aufhalten, ist groß. Etwas kaputt zu machen, tut vermutlich irgendwie gut. Die Gärtnergruppe hat aufgegeben – der Vandalismus hat den Idealismus verdrängt.

Einmal jährlich veranstaltet der Bezirk im Eastgate, dem riesigen Einkaufszentrum, sogenannte Sozialtage. Der gewaltige Klotz, das wie vom Himmel gefallene trostlosen Zentrum des Stadtteils, beherbergt dann für wenige Tage neben den üblichen Geschäften Info-Stände zu Beratungseinrichtungen, Stadtteilzentren, Seniorencomputerclubs und anderen Initiativen. Es gibt schon Unterstützung, trotzdem fänden nur die Wenigsten ihren Weg zu den Angeboten und Hilfen. Noch so eine unglückliche Parallelität der Welten.

Aktuell steigt auch die Zahl der Obdachlosen in Marzahn, erfahre ich. Zur jährlichen Weihnachtsfeier  erscheinen sogar Kinder und Jugendliche, die bereits seit Jahren auf der Straße leben. Pau kennt Menschen, die so tun, als ob sie zur Arbeit gingen, um nicht aufzufallen. Und sie erzählt von den pausenlosen unglücklichen strukturellen Veränderungen im Quartier: Seit 1990 hätten die Besitzer der Wohnungsbaugesellschaften immer wieder gewechselt. Auch in Marzahn-Hellersdorf sei Wohnraum längst zu einem attraktiven Spekulationsobjekt geworden. Den Preis zahlten immer die Menschen, die es ohnehin schon schwer genug hätten. Das Zusammenleben sei anstrengend, manchmal auch beängstigend, ergänzt eine Büromitarbeiterin: Nächtliche Gewalt, auch Schießereien gehörten zum Alltag. Auch sie meidet den Weg durch den kleinen Park an der U-Bahn.

Nach einem einstündigen Rundgang stehen wir dann plötzlich vor der Südfassade der Alice Salomon Hochschule, und Petra Pau erinnert mich an die aufgeregten Diskussionen um das Gedicht. Mein Gott, denke ich, was für eine Gesellschaft, in der eine Debatte über ein solches Gedicht Medien und Menschen landauf und landab beschäftigt, während die Lebensbedingungen der vielen Kinder, der tapferen, verzagten, wütenden Frauen und Männern im selben Stadtteil offensichtlich nur wenige wirklich interessieren?!

Die Wahlergebnisse aus dem vergangenen September machen jedenfalls klar, dass die Menschen hier von den etablierten Parteien kaum noch Unterstützung erwarten. Heute ist die AfD zweitstärkste Kraft im Bezirk, hinter der Linken, die traditionsgemäß seit dem Mauerfall die Direktmandate holt. Petra Pau ist hier zuhause und engagiert sich seit Jahrzehnten für die Verbesserung der Lebensverhältnisse, das wissen viele zu schätzen. Doch es ändert sich zu wenig. Und sie hat sich auch Feinde gemacht: Ihr Engagement für das Flüchtlingsheim am Ort war ein Auslöser für beängstigende Drohungen. Auch während unseres Spaziergangs wird Petra Pau deswegen diskret vom Personenschutz begleitet. Den brauche sie, sagen die Sicherheitsbehörden.

Zum Schämen

Die Südfassade der Alice Salomon Hochschule wird ab August ein Gedicht der Lyrikerin Barbara Köhler zieren. Wie auch der beanstandete Gomringer trägt sie den Alice Salomon-Poetik-Preis: „Die Mitglieder des akademischen Senats haben sich nach einer intensiven und sehr abwägenden Debatte mehrheitlich für diesen Vorschlag ausgesprochen. Für die Hochschule bedeutet dieses Votum ein klares Bekenntnis zur Kunst“, zitierte die Pressemitteilung den Direktor der Alice Salomon Hochschule Berlin, Professor Dr. Uwe Bettig. – Ein Bekenntnis zur Kunst kann sehr wichtig sein, auch in sozialen Brennpunkten, das ist mir klar. Trotzdem: Zwei Stunden in Marzahn-Hellersdorf reichen, um sich dafür zu schämen, welche unerhörten Debatten wir in unserem Land führen und welche eben nicht.