Geht die Arbeit der Diakonie einfach weiter – auch nach der Bundestagswahl? Selbstverständlich. Armutsbekämpfung, Integration, Inklusion, Zukunft der Pflege … – die Aufgabenliste ist lang und bekannt, viele Aufgabenfelder hängen zusammen. Und jedes ist auch weiterhin betroffen von den zwei großen D– Digitalisierung und Demographischer Wandel. Diese Aufgaben bleiben uns erhalten.
Und trotzdem können wir nicht einfach nur irgendwie weiter machen: Denn das Wahlergebnis stellt das Megathema Zukunft der Offenen Gesellschaft und die Frage nach dem gesellschaftlichem Zusammenhalt in unserem Land ins Zentrum jeder Debatte. Mehr als 30 Prozent der Wahlberechtigten sind gar nicht wählen gegangen und fast 13 Prozent haben ihre Stimme einer rechts außen Partei mit rassistischen und völkischen Ansichten gegeben, sei es aus Protest, (Ent-) Täuschung oder Überzeugung. Was bedeutet das für das Experiment Bundesrepublik Deutschland, das lohnenswerte Experiment einer offenen, vielfältigen, demokratischen und sozialen Gesellschaft aus Starken und Unbehausten, Weniger-Starken und Saturierten, Zugewanderten und tatsächlich Schwachen und Angewiesenen, für das wir als Diakonie aus Glauben und demokratischem Grundverständnis überall in diesem Land mit Anderen einstehen? Ich will und wir werden die Arbeit an diesem gottgewollten und menschendienlichen Experiment keinesfalls aufgeben.
Krachende Entsolidarisierung
Es stellen sich viele Fragen, wenn wir nach diesem Wahlergebnis an Tiefenbohrungen und nicht an oberflächlichen Schuldzuweisungen interessiert sind. Wie organisieren wir – da ist jeder und jede gefragt – vor diesem Hintergrund der krachenden Entsolidarisierung einen tragfähigen sozialen Frieden in Deutschland? Wie gewinnen wir die, die sich nicht dazugehörig fühlen, für die offene Gesellschaft – ob mit oder ohne Migrationshintergrund? Wie entsteht ein Gefühl der Dazugehörigkeit, trotz aller bleibenden Unterschiede? Wie kommen wir in unserem Land über alle Gesinnungsgräben und unterschiedlichen Lebensgeschichten hinweg in ein konstruktives Gespräch? Was können wir als Diakonie, als Kirche in abgehängten Stadtteilen oder ländlichen Regionen noch mehr tun, gemeinsam mit anderen, um dazu beizutragen, die offensichtlichen Spaltungen der Gesellschaft zu überwinden? All das wird und muss uns beschäftigen.
Aus diakonischer Sicht kann gelebte Vielfalt, kann Integration nur gelingen, wenn Menschen für sich, ihre Nächsten und ihre Familien eine Perspektive sehen können. Das gilt übrigens für alle Menschen, nicht nur für Geflüchtete. Nur wer für sich und die Seinen in einer Gesellschaft Zukunft sieht, entwickelt Interesse an der Mitgestaltung dieser Gesellschaft und will dazu gehören. Wer seine Zukunft dagegen dauerhaft in Frage gestellt sieht, wird gleichgültig oder zornig und wendet sich ab. Die einen schwadronieren dann vom deutschen Volk, andere vom Kampf gegen die Ungläubigen.
Am Freitag findet im Rahmen der Interkulturellen Woche erneut der bundesweite Tag des Flüchtlings statt. Wie wichtig ist dieser Tag, gerade nach der rätselhaften Drohung Alexander Gaulands, die AfD werde sich „unser Volk zurückholen“! Mit Blick auf den Marathonlauf Integration von Geflüchteten lehrt jede Erfahrung: Wer verhindert, dass Flüchtlinge mit ihren engsten Angehörigen zusammenleben können, schadet dem Projekt Integration, denn er nimmt den Menschen ihre Hoffnung auf Zukunft. Dazu binden Sorge, Angst, Sehnsucht und Einsamkeit Kräfte, die dem Ankommen in der neuen Heimat verloren gehen. Erfolgreiche Integration ist nichts für Einzelkämpfer, sie ist eine Gemeinschaftsaufgabe und wird idealerweise als Familienprojekt gedacht und gelebt. Zur Familienzusammenführung gibt es dauerhaft keine Alternative.
Für Familienzusammenführung
Darum unterstützt die Diakonie Geflüchtete mit einem eigenen Fonds zur Familienzusammenführung von Flüchtlingen, der ein Drittel der Reisekosten nachziehender Angehöriger übernimmt. Seit 2016 konnten so über 1.600 durch Flucht getrennte Familien wieder zueinander finden und eine Zukunft beginnen, 1.400 warten auf die Bewilligung ihres Antrags. Das Geld für den Fonds stammt hälftig aus Spenden und aus Mitteln der Evangelischen Kirche in Deutschland.
Nicht zuletzt erspart uns Familienzusammenführung eine flächendeckende Überforderung der Verwaltungsgerichte, die jetzt massenhaft aussichtsreiche Klagen gegen ergangene Bescheide des Bundesamtes zu bearbeiten haben. Wer den Marathonlauf Integration gewinnen will, dem darf wegen 13 Prozent eben nicht die Luft ausgehen. Hier gilt es politisch eine bessere Kondition und etwas mehr Ausdauer zu trainieren. Man kann das auch politische Glaubwürdigkeit nennen.
Es geht um viel. Es geht um den sozialen Frieden und das mühsame Einüben, das anstrengende Sich – Einleben in einer offenen, vielfältigen und menschengerechten Gesellschaft in einer sich grundlegend verändernden Welt. Dafür lohnt es sich zu streiten und zu arbeiten, dafür stehen die interkulturelle Woche, der Tag des Flüchtlings und auch die Diakonie. Weiterhin. Weil Gott will, dass allen Menschen geholfen wird.