Bei ihr sei Irritation das erste Gefühl gewesen, erinnert sich Marlis Winkler vom Diakonischen Werk Syke-Hoya-Diepholz. Plötzlich hätten im ganzen Landkreis Diepholz diese violetten Plakate gehangen: „Unerhört! Diese Obdachlosen!“, „Unerhört! Diese Flüchtlinge.“ Absender Diakonie? Kann das sein? – Im Umland von Bremen hat die Diakonie-Kampagne im Frühjahr genauso eingeschlagen, wie wir in Berlin uns das erhofft hatten. Die Presse fragte nach, eine öffentliche Debatte begann und die Irritation wandelte sich erst in Nachdenklichkeit und dann in Zustimmung.
Das Diakoniewerk hat den Impuls aufgenommen, und die Woche der Diakonie 2018 fragt und antwortet in Syke: „Stadt-Land-Schluss? Zuhören!“. Am Montag war ich dort im Rahmen meiner Sommerreise Gast beim „Unerhört!-Forum“ und konnte mitdiskutieren – mit Fachleuten und anderen Bürgerinnen und Bürgern, mit Lokalpolitikern, mit Geflüchteten, Angehörigen von Pflegebedürftigen und Alleinerziehenden: Was bewegt die Menschen auf dem Land, in der Kleinstadt? Was bedeutet es genau hier im ländlichen Raum arm zu sein, geflüchtet oder alleinerziehend? Welches diakonische Engagement hilft anderen Menschen das Leben leichter zu machen? Und wer sind dabei die geeigneten Kooperationspartner? Im Hintergrund steht immer die politische Frage nach den gleichwertigen Lebensverhältnissen in unserer Republik. Hier tragen auch Kirchen und Diakonie eine Verantwortung. Sie bieten besondere Chancen mit ihrer guten sozialräumlichen Vernetzung.
Gehen ohne Beine
Zwei Tage später in Hamburg bringt Frie Bräsen, Propst von Altona-Blankenese im Kirchenkreis Hamburg West-Südholstein, unser gemeinsames Anliegen so auf den Punkt: „Kirche ohne Diakonie ist wie Gehen ohne Beine.“ Ich ergänze: Eine Kirchengemeinde, die nicht diakonisch tätig ist, verfehlt ihre Mission und verpasst ihre Zukunft. Bereits 2001 hat der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber formuliert, „dass der Beistand für Menschen in Not und Hilfsbedürftigkeit eine Dimension des missionarischen Handelns ist, zu dem unsere Kirche heute aufgerufen ist.“
Und obwohl die Kirchenmitgliedszahlen zurückgehen, liegt hier ein Schlüssel zur Zukunft von Kirche und Diakonie in unserer Gesellschaft. Und ein Schlüsssel zu den Menschen. Auch als kleiner werdende Kirche haben wir den bleibenden Auftrag, für andere da zu sein. Ich freue mich, dass derzeit der Kairos gekommen zu sein scheint, der Idee der Gemeinwesendiakonie neuen Schwung zu verleihen: in vielen Gemeinden vor Ort, aber auch auf Bundes- und Landesebene. Gemeinsam mit der EKD bereitet die Diakonie Deutschland eine bundesweite Tagung vor, die das Thema in die Fläche bringen soll. Auch die neue gemeinsame „Arbeitsstelle missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung“ unter dem Dach der Diakonie soll in diese Richtung wirksam werden: „Diakonie und Kirche mit anderen“ – das ist eine verheißungsvolle und sinnvolle Überschrift für unser Anliegen, den vorbehalts- und absichtslosen Dienst am Nächsten in einer älter, ungleicher und vielfältiger werdenden Bundesrepublik Deutschland neu als Teil der Mission von Kirche und Diakonie verstehen zu lernen. Neue Partnerschaften zwischen Gemeinde und unternehmerischer Diakonie treffen auf günstige Bedingungen, sie erfordern aber auch gegenseitige Aufmerksamkeit und Verständnis.
Unerhört! Die Gemeinwesendiakonie.
Die Gemeinwesendiakonie ist jedenfalls so etwas wie ein natürlicher Lebensraum der Unerhört!-Kampagne, auch das hat sich im zweiten Teil meiner Sommerreise gezeigt: Denn wo Kirche nahe bei den Unerhörten ist, behält und erhält sie in unserer Gesellschaft einen unersetzbaren Platz u n d sorgt dafür, dass Gottes menschenfreundlicher Geist in Kiez und Quartier oder in der ländlichen Nachbarschaft wirksam werden kann.
Zum Beispiel im „BaLuGa“ – dem Bahrenfelder LutherGarten der dortigen Luthergemeinde: Eine zunächst für 15 Jahre gepachtete Oase auf ungenutztem Friedhoferweiterungsland mitten in Hamburg: Hier findet sich ein „Bauwagen der Stille“ und ein Natursteinaltar auf der Wiese, ein Heim für vier Menschen im Kirchenasyl, eine Sommerküche, ein Gewächshaus, Hühner, Bienen, Gemüsegarten und auch ein wenig paradiesische Wildnis mitten in der Stadt. Ein wunderbarer Ort der Möglichkeiten, der viel Platz für viele Menschen mit vielen Ideen bietet, ein Ort der Erholung und Besinnung, zugleich ein Lern- und Spielort für Schulklassen, Pfadfinder und Kindergärten und ein Ort für verschiedene Veranstaltungen, zum Beispiel für Osterfeuer, Freiluftgottesdienste, Open Air Kino und vieles mehr. Nicht jede, die sich hier engagiert, geht sonntags in die Kirche, aber sie alle identifizieren sich mit ihrer Gemeinde. Eine einladende und engagierte Gemeinde mit offenen Rändern – ohne Angst vor Berührung.
Als Verbündete versteht Pastor Björn Begas auch manche der Fahrradschrauber vom Regerhof, einem anderen Arbeitsfeld der Gemeinde: Vor drei Jahren hatte die Luthergemeinde auf einen Schlag rund 3500 neue Nachbarinnen und Nachbarn, alle in Not: geflüchtet aus Syrien, untergebracht in der Notunterkunft Schnackenburgallee – ohne Geld, ohne Arbeit, ohne Winterkleidung. Damals wuchs die Gemeinde – Haupt- und Ehrenamtliche – gemeinsam mit den Geflüchteten in ganz neue Aufgaben hinein: eine Kleiderkammer, Deutschkurse, die Sozialberatung im Truck, oder die Fahrradwerkstatt „SchnackSchrauber“ entstanden. Dazu kommt heute das Café Elio in einem neu errichteten gemütlichen Holzhaus auf zwei Lkw-Anhängern direkt am Eingang des Geländes. Es steht allen offen: den Besuchern der benachbarten Friedhöfe, den Klientinnen und Klienten der Sozialberatung genauso wie den Kunden des nahe gelegenen Autohauses. Langsam spricht sich das neue Angebot herum, es begegnen sich Menschen, die sonst selten im selben Café sitzen, erzählt der Koordinator der Flüchtlingsarbeit. Aus der Arbeit für Geflüchtete erwächst eine kirchliche Gemeinwesenarbeit, von der die ganze Nachbarschaft profitieren kann.
Diakonie-Kirche für Iserbrook
Nur gut zehn Autominuten entfernt liegt die Evangelisch-lutherische Gemeinde Sülldorf-Iserbrook im Hamburger Westen. Hier gibt es nach einer Fusion Gebäude und Grundstück, die auf eine neue Idee warten. Aus alten Leerräumen können neue Lehr- und Lernräume werden – für Gemeinsinn und Zugehörigkeit. Außerdem sucht man nach Konzepten, mit denen die Gemeinde ihre Arbeit finanzieren kann, denn die Kirchensteuermittel werden weniger. In Iserbrook soll eine Diakoniekirche entstehen, soviel steht fest. Denn Sülldorf-Iserbrook spiegelt im Kleinen viel von den Veränderungen der bundesrepublikanischen Gesellschaft, erzählt der Pastor Christian Carstens. Die sozialen Unterschiede nähmen zu, die Konflikte würden härter. Noch leben hier Menschen, die für ein Einfamilienhaus 800.000 Euro zahlen können und andere, die auf Hartz IV-Leistungen angewiesen sind, nah beieinander. Was brauchen diese Menschen von ihrer Kirche, seien sie nun kirchennah oder -fern? Was für Ressourcen sind vorhanden? Wie kann die Kirchengemeinde ein lebendiges Zentrum der Unterschiedlichen werden, das positiv ausstrahlt in das Quartier? Auch hier geht es ums Zuhören, um das Miteinanderreden, um die Unerhörten und ihre Interessen.
Unsere Kampagne möchte Prozesse anstoßen, die nachhaltig wirken sollen. In Wilhelmshaven, der Station am Dienstag, plant die Diakonie des Kirchenkreises mit Unterstützung des Diakonischen Werks Oldenburg einen „Zuhör-Laden“ mitten in der Stadt. Einen Ort, an dem die Menschen offene Ohren finden für ihre Geschichten. Für große und kleine Sorgen, für Unerhörtes und nie Erzähltes. Medien- und Kulturpartner sind mit der Wilhelmshavener Zeitung, dem Lokalradio Jade und dem Deutschen Marine-Museum gefunden. Bürgermeisterin, Ratsleute und die Bundestagsabgeordnete Siemtje Möller sind interessiert und begrüßen das Engagement „ihrer“ Diakonie. Auch das sind Aspekte der Vernetzung, mit der Diakonie vor Ort unterstützt über die Unerhört-Kampagne zu einer Plattform für die Diskurse zur sozialen Teilhabe vor Ort werden kann: „Diakonie mit anderen“.
Diese Sommerreise macht Hoffnung: Ich habe zwar nur sechs Städte besuchen können, aber schon diese Besuche haben wieder gezeigt: es gibt viele wunderbar engagierte Menschen in diesem Land, die jeden Tag gute Geschichten schreiben. Und: Wir haben das beste Filialnetz der Republik: Kirche und Diakonie sind fast überall. Wenn wir es schaffen, uns noch besser zu vernetzen, wenn wir Partnerinnen und Partner finden, die mit uns gemeinsam Teil der Lösung sein wollen, können wir noch unerhört viel Gutes bewirken.