„Twitter müsste für Losungsleserinnen und -leser eigentlich ein nachvollziehbares Medienformat sein. Denn was sind Losungen anderes als Bibel-Tweets? Kurze, aus dem Zusammenhang gerissene Sätze, die eine erstaunliche Breitenwirkung haben – jedenfalls in der evangelischen Welt. Und Aussagen von Politikern wie Wolfgang Schäuble oder Katrin Göring-Eckardt zeigen, dass sie auch in politische Diskurse sickern können.“
Mit diesen Worten habe ich in dieser Woche eine Andacht anlässlich der Jahrestagung der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen (ÖAB) in unserem Haus begonnen. Solche Termine gehören auch zu meinen Aufgaben als Diakonie-Präsident und sollen auch im Blog vorkommen. Die Fortsetzung der Andacht lesen Sie weiter unten.
Lesung und Losung
In jedem Februar kommen die Delegierten aus rund 25 verschiedenen evangelischen und katholischen Organisationen in Berlin zusammen, um einen ökumenischen Bibelleseplan zu erstellen, der für jeden Tag des Jahres einen Abschnitt aus der Bibel als Lesung anbietet. Millionen Menschen ist dieser Plan eine Orientierung.
In einem Turnus von vier Jahren führt er durch das ganze Neue Testament und innerhalb von acht Jahren durch alle Bücher des Alten Testamentes. Außerdem werden in Berlin die Monatssprüche und die Jahreslosungen der kommenden Jahre festgelegt. Heute fällt die Entscheidung für die Jahreslosung 2022.
Wachsende Ökumene
Was nach dem ersten Weltkrieg im Reichsverband der Evangelischen Jungmännerverbünde –später CVJM – entstand, wuchs über das Jahrhundert: Schon 1925 kamen die evangelische weibliche Jugend, die Diakonissenhäuser und die Frauenhilfe dazu, 1938 folgten baptistische und methodistische Kirchen, Ender der Sechzigerjahre dann die römisch-katholische Kirche. Seit 1970 trifft man sich als Ökumenische Arbeitsgemeinschaft.
Während der deutschen Teilung, bis 1990, arbeitete die ÖAB zwar in zwei Regionen, aber die Entscheidungen über Lesepläne und Sprüche für Monate und Jahre wurden doch immer gemeinsam getroffen: bei der jährlichen Mitgliederversammlung in Ostberlin.
Meine Andacht Anfang der Woche bezog sich auf die ökumenische Jahresslosung für 2020. Sie stammt aus dem Markusevangelium (9, 24) und heißt: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“
Andacht 2020
„2020, im Jahr dieser Losung, werden in Deutschland gerade noch 50 Prozent der Bevölkerung einer christlichen Kirche angehören. Das ist Teil der Realität, auf die wir uns zu bewegen. Die christliche Glaubenssprache in ihren verschiedenen konfessionellen Dialekten wird immer mehr zur Fremdsprache.
Die Geschwister in Ostdeutschland leben bekanntermaßen schon lange in dieser Realität. Der Ostbeauftrage der Bundesregierung Christian Hirte sagte kürzlich in einem Interview, dass der Osten dem Westen 30 Jahre voraus sei – bei der Demografie, aber auch bei gesellschaftlichen Prozessen wie in Kirchen, Gewerkschaften und Vereinen, bei denen wir sehen, dass die Bindekraft nachlässt.
„Ich glaube, hilf meinem Unglauben“. Was wird der Satz aus dem Markusevangelium in diesem gesellschaftlichen Umfeld bedeuten?
Moderne Zweifel
Möglicherweise wirkt er wie der Stoßseufzer einer modernen Zweiflerin, eines Zweiflers. Fast dahingeplaudert, in komischer Verzweiflung. Glauben nicht alle irgendetwas? Auch wenn der Himmel für den modernen Menschen eher leer ist und die Kirchen ein Anachronismus, ist Spiritualität ja kein Schimpfwort: Meditations-Apps, Pilgerreisen, Yoga-Retreats, Kloster auf Zeit erfreuen sich großer Beliebtheit. Sieben Minuten oder gar ein Wochenende für die Seele.
Der Himmel ist leer, die Gottesdienste auch, aber der Mensch will etwas glauben oder wenigstens still werden und tiefer atmen. Ernsthaft, und doch auch mit einem Grinsen und Schulterzucken. „Hilf meinem Unglauben.“ Der Seufzer hat etwas von einem eloquenten Spiel mit der Paradoxie. Ein bisschen kokett, fast, könnte man meinen. Einerseits.
Atheistische Sehnsucht
Andererseits fällt mir die sehnsüchtige Bemerkung einer Deutschlandfunkhörerin aus Dresden ein, von der mir erzählt wurde. Eine Enddreißigerin, Mutter zweier Kinder. Es ging um eine Radioandacht, die sie berührt hatte. Sie schrieb: „Ich glaube nicht. Jedenfalls nicht an Gott. Aber ich bin froh, dass es Menschen gibt, die das tun und die darüber sprechen. Ich würde so gerne glauben. Nur: Wie soll das gehen – mit fast 40 Jahren?“
Sehnsucht und Ratlosigkeit halten sich die Waage. Ein Atheismus, der mit einer ungestillten Sehnsucht lebt: „Ich möchte glauben. Hilf meinen Unglauben.“
In der Geschichte aus dem Markusevangelium hat der Satz, der wie ein stiller Seufzer klingt, eine ganz andere Tonalität. Sie ist laut, aggressiv, verzweifelt. Wenn man den Vers im Kontext liest, verliert er alle Blassheit. Mit wenigen Worten zeichnet Markus eine dramatische Szene:
Glauben im Getümmel
Wir befinden uns mitten in einem Getümmel – Schriftgelehrte, die Vertrauten Jesu, eine Menschenmenge. Die Emotionen kochen hoch. Ein Wort gibt das andere. Im Zentrum ein Vater mit seinem sicher verschreckten, schwer behinderten Jungen. Er soll besessen sein. Stadtbekannt seine Anfälle mit Schaum vorm Mund, Zähneknirschen, Krampfanfällen, Ohnmacht. Ein böser Geist ist am Werk. Kinder wie dieses leben mit ihren Familien in sozialer Isolation.
Vermutlich gab es darum schon helle Aufregung, als Vater und Kind nur auftauchten unter den Leuten. Mich beeindruckt dieser Mann. Er begeht einen Tabu-Bruch: Mit unreinen Geistern spaßte man nicht. Sie galten als gefährlich. Ansteckend womöglich.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschen das hinnahmen. Vielleicht akzeptierten sie noch, dass er zu diesem Heiler und Lehrer wollte, über den alle Welt sprach. Ganz bestimmt aber eskalierte der Streit spätestens, als die Jünger zu heilen versuchten, und es nicht konnten.
Was für eine Szene: Der verzweifelte Vater, sein verängstigtes Kind, die spottenden, schreienden Menschen, die sich rechtfertigenden Jünger. Und dann: Auftritt Jesu. Ich kürze ab: Der Heiland ist unfreundlich, wirkt genervt – man weiß nicht recht, von wem, verlangt schroff nach dem Kind, lässt sich die Krankengeschichte erzählen.
Der Vater fleht ihn an: Wenn du etwas kannst, dann erbarme dich… – Jesus knurrt: „Alles ist möglich, dem der da glaubt.“ Und – vielleicht ist das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt – der Vater explodiert. Keine Spur von Selbstkontrolle. Er ist außer sich, er schreit: „Ich glaube. Hilf meinen Unglauben“. So dichtet Markus. Wer ist hier eigentlich der Besessene?
Das Bild friert ein
Ob er überhaupt weiß, was er gerade gesagt hat, dieser Mann?
Was sich in der Jahreslosung wie ein stilles Gebet liest, hat eine so ganz andere Temperatur. Es ist ein Schrei. Und die Worte, das verzweifelte Vertrauen, das aus diesem Schrei gepresst wird, sind nicht Ergebnis einer wohltemperierten theologischen Einsicht. Das Studium heiliger Schriften kommt gar nicht vor.
Dieser Glauben hat keine Alternative mehr. Er ist erlitten. Dieser Schrei wurzelt im ganzen bisherigen Leben dieses Vaters. „Ich glaube, hilf meinem Unglauben“ spitzt sein Leid zu, und wendet es wie eine Waffe gegen das unerträgliche Schicksal des Kindes und seiner ganzen Familie:
„Wenn du kannst, dann erbarme dich.“
Hoffnung und Trotz
Das ganze bisherige Leben dieses Vaters: das ist die Liebe zu seinem kranken, vielleicht schlimmer noch, besessenen Kind. Die Verweigerung, die Hoffnung zu verlieren. Der Mut, sich über gesellschaftliche Konventionen hinwegzusetzen und keine Peinlichkeit zu scheuen. Die Hartnäckigkeit, die sich nicht Abwimmeln lässt. Der Trotz gegen die Enttäuschung, die nicht das letzte Wort haben soll.
„Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ – Das ist die Essenz seiner Persönlichkeit. Verzweifeltes Vertrauen. Daher kommt die Kraft.
Die Jahreslosung 2020 ist ein Schrei. Und Jesus heilt.
Was brauchen Menschen im Jahr 2020? Sie brauchen mehr von der Leidenschaft dieses verzweifelten Vaters. Von dem Wissen, dass das Erlittene zu einer Kraft werden kann, die zum Heil führen wird.
Wo begegnen wir Menschen, die sich Liebe, Hoffnung, Mut und Hartnäckigkeit nicht austreiben lassen? Die nicht einknicken vor den bösen Geistern, die was und wen wir lieben, kaputt machen? Die das Vertrauen nicht verlieren wollen, auch wenn alles dagegen spricht? Die ihren Unglauben so ernst nehmen, wie ihren Glauben?“
Impulse setzen
So meine Andacht zur Jahrestagung der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellese. Einer der ungezählten Texte, die es ohne dieses stille Gremium mit seinem schwermessbaren Einfluss nicht gäbe. Herzlichen Dank für die Impulse, die Sie setzen.