Was erlebt ein Motorradfahrer, der seine Beine verloren hat, im Krankenhaus? Was sein Lebensgefährte? Was braucht die Mutter, deren Krebs zurück ist? Was fehlt der Neunzigjährigen auf der geriatrischen Akutstation, die Angst hat, nicht mehr nach Hause zu können? In meiner Zeit als Klinikseelsorger bin ich oft Menschen in solchen Situationen begegnet.
Zuhörend, schweigend, wenn gewünscht auch betend und segnend. Verzweiflung aushalten, Schmerz wahrnehmen, Trost spenden, wenn das möglich und dran ist. Vielleicht ein Glas Wasser holen oder – wenn gewünscht – die Hand halten. Erspüren und fragen, was das Gegenüber jetzt braucht. Selten ging es allein um religiöse Fragen, immer ging es um das Leben in allen Dimensionen.
Blinde Flecke beseitigen
Verzweifelte Menschen in existenziellen Krisen gehören zum Krankenhausalltag. So durchgetaktet und kosteneffizient er auch organisiert sein mag. Nur: Im Grunde stört diese Art der Bedürftigkeit die Krankenhausprozesse regelmäßig. Darunter leiden alle Beteiligten, aber im Gesundheitssystem ist es ein blinder Fleck. Das soll sich ändern.
Genau hier setzt das unter anderem von Diakonie und Caritas angestoßene und von der Universität Witten-Herdecke wissenschaftlich begleitete Langzeitprojekt SpECi an. SpECi steht für „Spiritual Existential Care interprofessionell“.
Fernziel ist, den ganzheitlichen Blick auf den Menschen im ganz normalen Krankenhausalltag besser zu verankern. Und zwar durch eine standardisierte Qualifikation von Mitarbeitenden in den Gesundheitsberufen. Derzeit befindet sich das neu entwickelte Curriculum an Standorten von Diakonie und Caritas in der Test- und Evaluationsphase.
Der ganzheitliche Blick
Ganzheitlichkeit schließt auch Spiritualität ein – und zwar weltanschauungsübergreifend. Das entspricht den Standards, die die Weltgesundheitsorganisation für die Pflege in der Palliativversorgung vorschlägt: spirituelle Gesundheit ist ein Aspekt eines ganzheitlichen Verständnisses von Gesundheit. Denn alle Menschen, auch Atheist:innen haben spirituelle Bedürfnisse. Oft kommen sie erst in schweren Krisen mit dieser Dimension ihres Menschseins in Kontakt.
Auch als einer, der seit den Neunzigerjahren der Hospizbewegung verbunden ist, hoffe ich sehr, dass die kostbaren Erfahrungen, die seitdem in der Begleitung sterbender Menschen gesammelt wurden, in nicht zu ferner Zukunft auch in anderen Bereichen der Pflege ankommen können. Das ist hohe Zeit, denn nicht nur das Lebensende konfrontiert Menschen mit Fragen ihrer Existenz. Es dient der Gesundung, wenn mehr Menschen im Klinikalltag in die Lage versetzt werden, in solchen Situation kompetent beizustehen.
Notfallseelsorge ohne Ausbildung?
Klinikseelsorger:innen sind wichtig, ja unverzichtbar in den Ausnahmezuständen auf Station, und oft leisten sie Erstaunliches – für Patient:innen, Angehörige und Mitarbeitende. Aber sie haben einen entscheidenden Nachteil: Sie können eben nicht überall sein.
Dazu kommt, die existenziellen Krisen erschüttern im Krankenhaus nicht nur den, dessen Lebensentwurf etwa durch eine Diagnose zerstört wird, sondern häufig auch die Mitarbeitenden in der pflegenden, therapeutischen und medizinischen Versorgung.
Schließlich sind sie meist die allerersten Ansprechpartner nach der Katastrophe: Notfallseelsorgende – nur leider ohne Ausbildung. Ganz egal, ob Pflegedienstleitung oder Oberärztin, ob Physiotherapeutin oder auch Reinigungsfachkraft: Einfach weil sie genau dort arbeiten, wo einem Menschen seine bisherige Existenz zerbricht.
Opfer des Systems
Man kann ihnen meist nicht vorwerfen, wenn sie darauf nicht angemessen zu reagieren wissen: Alle sind sie Opfer eines hochmodernen, sehr leistungsfähigen und gleichzeitig den menschlichen Grundbedürfnissen schrecklich entfremdeten Systems, in dem Begriffe wie „Ganzheitlichkeit“ oder „spirituelle Gesundheit“ Fremdworte werden und Professionaliät zum Schutzpanzer erstarren kann.
Es ist leider Glücksache, ob ein schwerkranker, verzweifelter Mensch im Krankenhaus in seiner ganzen Existenz gehört und gesehen wird, oder ob er nur ein defekter Körper sein darf, der wieder funktionsfähig gemacht werden soll.
Dass sich das ändert, dass die Implementierung von Spiritual / Existential Care und eines entsprechenden Menschenbildes in die medizinisch-pflegende und therapeutische gesundheitliche Versorgung gelingt, ist darum letztlich in unser aller Interesse.
SpECi im Test
Die SpECi-Erprobungsphase in acht großen deutschen Klinikkomplexen läuft genau jetzt, auch unter dem Dach der Diakonie: das Evangelische Krankenhaus Alsterdorf ist dabei, die Johannesstift Diakonie in Berlin, die Bethler Altenhilfe Ostwestfalen, die Evangelischen Kliniken Essen Mitte und die Theodor-Fliedner-Stifung in Mühlheim/Ruhr.
Überall dort wird derzeit das neue vierzigstündige berufsgruppen-übergreifende SpECi-Curriculum umgesetzt, in die laufende Arbeit integriert und begleitend wissenschaftlich evaluiert. Im Spätsommer 2022 können wir dann genauer sagen, ob und wie gut es funktioniert hat.
Das Curriculum baut auf den vorhandenen Kompetenzen in der pflegerischen, ärztlichen, therapeutischen, hospizlichen und palliativen Versorgung auf. Es zielt darauf, berufliche wie ehrenamtliche Mitarbeitende für die existenziellen und spirituellen Fragen im Zusammenhang von Krankheit und Sterben sensibilisieren. Außerdem soll es ihre Kommunikationsfähigkeit und Handlungskompetenz in diesem Themenfeld fördern.
Humane Avantgarde
Ich halte das für absolut zukunftsweisend, und ich bin auch ein bisschen stolz darauf, dass wir als Diakonie hier mit am Start sind. Wer sich der Spiritual Care widmet, gehört zur Avantgarde im Gesundheitswesen. Genau wie die, die den Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Pflege erproben. Nur gemeinsam weisen sie einen Weg in eine humane Zukunft.
Strukturveränderungen, gesetzliche Grundlagen und Finanzierung müssen folgen. Auch das zeigt die Erfahrung aus der Hospizbewegung. Sie zeigt (leider) auch: Gut Ding will Weile haben. Aber es lohnt sich: Das Leben gewinnt immer, wenn die Schwachen, die Sterbenden nicht vergessen werden.