„Menschenrechte statt rechte Menschen“. Dieses handgeschriebene Plakat habe ich neulich aus dem Auto heraus gesehen. Es hing an einem Gartenzaun im Norden Berlins. Und es geht mir nach. Ob der Verfasser dieser Zeilen sich dem Grundgesetz nah fühlt, dessen 70. Geburtstag wir heute feiern?
Wahrscheinlich schon. Die Meinungsfreiheit deckt auch solche Aussagen. Trotzdem geht mir dieses Plakat gegen den Strich. Denn wirklich zu Ende gedacht, kann der schon grammatikalisch schräge Satz nicht sein. Er legt zumindest nahe, dass Menschenrechte für rechte Menschen eigentlich nicht gelten sollten.
Ich kenne diese Haltung. Sie begegnet mir recht oft unter denen, die sich engagiert für eine gerechte Gesellschaft engagieren. Und im Umgang mit Menschen, die ihnen politisch verdächtig erscheinen, kennen viele nur noch zwei Methoden: eine quasi dämonisierende Ausgrenzung und harte Konfrontation. Wenn ich in Diskussionen darauf hinweise, wie sehr solche Strategien denen ähneln, die sie angreifen, ernte ich oft Unverständnis.
Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Eine klare Haltung gegen Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit halte ich nach unserer Geschichte für selbstverständlich und unaufgebbar. Aber nicht jeder Rechte ist ein Nazi. Und: Es gibt immer einen Menschen und eine Geschichte hinter der Meinung. Hinter jeder Meinung.
Menschenrechte gelten bedingungslos
Da setzt auch die Unerhört-Kampagne der Diakonie an, über die ich hier schon oft geschrieben habe, und darauf setzen auch die Menschenrechte. Sie gelten für alle Menschen, sogar für die, die Menschenrechte abschaffen wollen. Menschenrechte gelten bedingungslos. Gerade für die Andersdenkenden und anders Lebenden.
Um diese demokratische Zumutung geht es, wenn das Grundgesetz in Artikel 1 festhält, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Dagegen wirkt der Aktivisten-Slogan „Menschenrechte statt rechte Menschen“ mindestens engstirnig. Er grenzt aus und holt nicht ins Gespräch. Aber ohne Gespräch, ohne Auseinandersetzung und ohne demokratischen Streit mit den Andersdenkenden und die Bereitschaft zum Überdenken, ja zur Korrektur der eigenen Position gibt es keine Demokratie.
Wir feiern heute 70 Jahre Grundgesetz und in diesem Jahr scheint mir dieses Jubiläum aus gutem Grund mehr Raum einzunehmen als an den früheren runden Jahrestagen. Nicht nur der Blick nach Österreich, Rumänien, Ungarn oder Italien und auf Le Pen in Frankreich zeigt, dass die Feinde der offenen Gesellschaft in Europa und in unserem Land wieder Erfolge feiern, die noch vor wenigen Jahren für undenkbar gehalten worden wären. Manches, was für die berühmten Väter und Mütter als Antwort auf einen Vernichtungskrieg und die systematische Vernichtung der Andersdenkenden und anders Glaubenden, die historische Schuld der Deutschen, schlicht gesetzt war, steht heute zur politischen Disposition und unter populistischem Rechtfertigungsdruck.
Rückzug ins Private
Diakonie kann nur in einer offenen, vielfältigen, demokratisch organisierten Gesellschaft wirklich wirksam werden. Die Menschenfreundlichkeit Gottes, die immer auf der Seite der Schwachen steht, die alle Menschen zu Brüdern und Schwestern erklärt und in Liebe und Gerechtigkeit konkret werden will – hat nicht nur eine sachliche Nähe zur Demokratie, sie hat mit ihrer inneren Logik den modernen Sozialstaat mit hervorgebracht und gestaltet ihn bis heute mit.
Das Demokratiemodell (und in Österreich bereits das Sozialstaatsmodell) ist heutzutage auf vielfältige Weise herausgefordert. Und zwar weltweit: Nicht nur durch rechts- und linkspopulistische Gruppierungen, sondern auch durch Menschen, die sich aus der Politik und dem öffentlichen Diskurs verabschieden und ins Privatleben zurückziehen.
Durch Menschen, die sich nicht informieren und ihr Wahlrecht nicht wahrnehmen, die sich nicht an den demokratischen Institutionen beteiligen, die sie kritisieren: an den Parteien, Gewerkschaften, Verbänden und Vereinen. Manche äußern ihre Meinung noch in den Sozialen Medien oder beteiligen sich an Online Petitionen – und verwechseln das mit zivilgesellschaftlichem Engagement, aktive Verantwortung für die Folgen ihres Denkens übernehmen sie nicht. All das untergräbt die Demokratie, unsere Freiheit.
Das Demokratiemodell wird heute auch in Europa durch gewählte Präsidenten herausgefordert, die Wahlen missachten, das Recht beugen, die Pressefreiheit beschneiden, Verträge brechen, Minderheiten verfolgen und Mehrheiten für ihre Interessen missbrauchen. Es ist auch durch politische Kampagnen gefährdet, die bewusst auf Halbwahrheiten oder echte fake news setzen. Überschriften – fixierte mediale Inszenierung von Politik wird immer öfter zum schlechten Ersatz für fachlich überzeugende Sachpolitik – auch in Deutschland. Demokratie weltweit ist herausgefordert durch ökonomisch erfolgreiche politische Systeme, die, wie China, gar nicht daran denken, sich für Demokratie oder Menschenrechte zu interessieren.
Vor diesem Hintergrund, und vor dem Hintergrund der disruptiven gesellschaftlichen Veränderungen, die uns mit der Digitalisierung und dem Klimawandel ins Haus stehen, ist es wichtiger denn je, sich für eine lebendige und zukunftsfähige Demokratie einzusetzen. Es ist dringend notwendig darüber nachzudenken, wie sie lebendig und zukunftsfähig bleibt. In den Parlamenten, den Rathäusern, den Kirchen, der Wohlfahrt, den demokratischen Parteien und den Vereinen.
Rückhalt in der Bevölkerung
Wir lernen neu: Demokratie, wie die in der Bundesrepublik Deutschland, ist nicht selbstverständlich. Auch am 70.Geburtstag bleibt das Grundgesetz auf die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger angewiesen, anders kann es seine Kraft nicht entfalten. Der Staatsrechtler Horst Dreier hat jüngst in der Wochenzeitung „Die Zeit“ zu Recht darauf hingewiesen, dass eine Verfassung nur funktionieren kann, „wenn sie Rückhalt in der Bevölkerung und vor allem bei den Eliten und in den Parteien hat. In Weimar war das der Kern des Problems: Es gab kaum wirkmächtige Unterstützung, nicht der Wirtschaft, nicht des Militärs, nicht der Kirchen, auch kaum im intellektuellen Milieu.“
Deutschland im Jahr 2019 ist nicht Weimar. Dennoch scheint mir wichtiger denn je, dass die Vorteile von Demokratie und Sozialstaat, die auf dem Grundgesetz aufbauen, im Alltag, vor Ort ihre Wirkung entfalten und erlebbar werden. Johannes Rau, hat das einmal programmatisch formuliert: „Die Kommune ist der Ernstfall der Demokratie.“ Und frei nach Johannes Rau würde ich sagen: Das Grundgesetz muss in der Kommune konkret werden.
Ob meine Würde geschützt ist, als alter Mensch, als Obdachloser oder Geflüchteter, ob ich meine Meinung sagen kann, auch wenn sie unpopulär ist, ob ich meine Religion ausüben kann, ob das Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit für den Rollstuhlfahrer genauso gewährleistet ist, wie für die Fußgängerin, ob ich Arbeit und Wohnung finde und und und… Ob all das erlebbar ist, entscheidet sich immer vor Ort, da, wo ich mit Anderen zusammenlebe: in meiner Nachbarschaft, die jeder und jede mitgestalten kann. Die Nachbarschaft ist auch der Ort, an dem Debattenkultur, Beteiligung, das gegenseitige Zuhören, das Finden von gemeinsamen Zielen, die uns in der Vielfalt verbinden, und die Übernahme von bürgerschaftlicher Mitverantwortung neue Verankerungsorte finden muss.
Geist der Kooperation
Und hier, wünsche ich mir, kommen Diakonie und Kirche, zukünftig mit ihrem Filialnetz ins Spiel: mit Gemeinden und Unternehmen, mit Beratungsstellen und Krankenhäusern, Seniorenheimen, Ambulanten Pflegediensten, Werkstätten, mit Ehe- und Lebensberatung, Wohngruppen, Wohnungslosenhilfe etc. Mit Mitarbeitenden und Klienten, mit Angehörigen und Nachbarn. Wir können das. Denn Diakonie ohne Zuhören und Teilhabe gibt es nicht.
Diakonie speist schon heute an ungezählten Stellen in unserm Land den Geist der Kooperation, des Umgangs auf Augenhöhe und des Respekts vor der Andersartigkeit der Anderen in die Gesellschaft ein. Das darf noch mehr werden, wir tragen auch Verantwortung dafür. Kooperation heißt das neue Schlüsselwort im nachpopulistischen demokratischen 21. Jahrhundert. Gemeinsam mit den anderen Trägern der freien Wohlfahrtspflege und den Kräften der Zivilgesellschaft geben wir dem Sozialstaat vor Ort Gestalt – als Schatz und Stütze einer lebendigen Demokratie.
Heute feiern wir Verfassungstag und am 15. Juni den Dritten Tag der Offenen Gesellschaft. Wer es also verpasst hat, das Grundgesetz in der Nachbarschaft mit zu feiern, kann das am 15. Juni nachholen und gemeinsam mit den Andern überlegen, was man tun kann, damit die eigene Nachbarschaft (wieder oder noch mehr) Lust auf Demokratie macht.