Vom Dresdner Altmarkt schallen am Montag die Sprüche der Pegida-Kundgebung herüber. Wir hören Sprüche wie „Volksverräter“, „Madenpolitiker ohne Rückgrat” und auch „Lügenpresse”, während wir im Chorraum der benachbarten Kreuzkirche unser erstes Diakonisches Nachtgebet vorbereiten. Ich bin in dieser Woche auf Sommerreise – in diesem Jahr durch die östlichen Bundesländer.
Wir sind in Sachsen gestartet, wo am Wochenende gewählt wird. Zum Auftakt ein Besuch beim Kreisverband Pirna in der Sächsischen Schweiz. Dann ein langes Gespräch mit den Referentinnen und Referenten beim Landesverband in Radebeul: Was kann die Diakonie tun, um die offene Gesellschaft zu stärken? Wie gehen wir mit der AfD um? Gerade in diesen Tagen treibt uns die Frage um.
Es drängt sich der Eindruck auf, dass in diesem Wahlkampf mehr Plakate hängen als sonst – und die vielen Blauen meist ganz oben an den Laternenmasten. Bundespolitiker aller Couleur geben sich zum Endspurt in Dresden die Klinke in die Hand. Die Republik schaut auf den Freistaat an der Elbe – informiert oder auch mit Vorurteilen beladen: driftet das Tal der Ahnungslosen – wie das Gebiet um Dresden wegen es schlechten West-TV-Empfangs zu DDR-Zeiten genannt wurde – nun nach ganz rechts?
Im Kirchenbezirk Pirna, zu dem die Sächsische Schweiz gehört, arbeitet die Diakonie auch mit rechten Gewalttätern: Das soziale Jugendprojekt „UZ“ kümmert sich um Jugendliche und junge Heranwachsende, die von der Jugendgerichtshilfe zugewiesen werden. 90 Prozent männlich, zu den Delikten, die sie begangen haben, gehören schwere Körperverletzung oder Zeigen verfassungsfeindlicher Symbole. Im Haus an der Schmiedestraße 1 wird ihnen erst einmal zugehört.
Bei Uwe Bierwolf und Christoph Hampel können sie ihre Geschichte erzählen. Und irgendwann auch die Geschichte hinter der Geschichte. In den vom Gericht auferlegten 30 Stunden entdecken sie, verteilt über ein halbes Jahr, neue Seiten an sich. Sie reparieren Fahrräder, werken mit Holz, malen, klettern. Und sie lernen dort Menschen kennen, die mitunter andersartig sind, Ausländer, Farbige, … Sie machen Erfahrungen, die sie wieder mit zurück in ihr Lebensumfeld, in ihre Clique nehmen. Das hilft nicht immer, aber oft. Die Erfolgsquote liegt bei achtzig Prozent. Erfolg heißt, nicht rückfällig werden. Seit über 25 Jahren besteht dieses diakonische Angebot. Es war schon einmal breiter gefächert, aber auch hier fehlt das Geld. Deutschland im Sommer 2019.
Zur Braunkohle in die Niederlausitz
Szenenwechsel. Am Dienstag fahre ich in die brandenburgische Niederlausitz. Hier hängen die AfD-Plakate auffällig niedriger als in Dresden. Hat das etwas zu bedeuten? Welzow gehört zu den Orten, die seit Jahrzehnten von der Braunkohle gelebt haben, aber noch nicht wissen, ob sie selbst auch noch der Erweiterung des nächsten Tagebaus weichen müssen. Das kleine „Unerhört“-Forum im Rahmen unserer Diakonie-Kampagne bringt die unterschiedlichen Positionen im Gemeindesaal an den Tisch. Dabei sind die Chefin eines großen Landwirtschaftsbetriebs im Ort, der Verwaltungschef der Kommune, die Vertreter der diakonischen Einrichtungen, der Pfarrer…
„Seit ich denken kann“, sagt eine 80-jährige Dame, „lebe ich mit der Frage, ob Welzow der Braunkohle weichen muss.“ Von den Gesprächen zum Kohleausstieg erwarten die Welzower nach Jahrzehnten des Bangens vor allem eins: endlich Klarheit. Die Debatten um den Tagebau haben in der Dorfgemeinschaft tiefe Gräben gezogen, viele sind von den endlosen Debatten „zermürbt”, sagt Pfarrer Hans-Christoph Schütt: auf der einen Seite die schon zu DDR-Zeiten hoch bezahlten Bergleute und ihre Zulieferer, andererseits die Kleinbetriebe und Landwirte, die sich von der Politik im Stich gelassen fühlen und für ihre Betriebe kaum noch Personal finden. Viele Junge sind darum längst weg. Und Demokratie – das hat sich hier mancher am Tisch anders vorgestellt. Die Freiheit, zu kommen, aber auch fortzuziehen, wann man will, ist auch 30 Jahre nach dem Mauerfall für manchen heute noch eine echte Herausforderung. Für meine Gesprächspartner*innen ist das eine Frage der Haltung: von „Flachwurzlern“ und „Tiefwurzlern“ ist die Rede. Was die Landtagswahlen bringen? Skepsis.
Zukunft gibt es nur miteinander
Unsere Veranstaltung, die mit einer zünftigen Erbsensuppe endet, bringt noch keine Lösung, zeichnet aber Perspektiven auf: „Wir sollten über den Tellerrand zu schauen.” „Wie haben es Andere gemacht?” Was kann man heute tun, damit etwas von den gerade noch rechtzeitig vor den Landtagswahlen ausgelobten Struktur-Milliarden auch vor Ort ankommt und wirklich hilft? Den „Tiefwurzlern”, die bleiben wollen und denen, die sie als neue Mitbewohner in der Lausitz gewinnen wollen? Das Gespräch vor Ort soll weitergehen, Pfarrer Schütt wird wieder einladen. Zukunft gibt es nur miteinander.
In Sachsen und Brandenburg durfte ich erleben, wie schwierig das Ringen um das demokratische Gemeinwesen ist, und wie aufwändig die Arbeit mit einzelnen Menschen, damit sie nicht abrutschen. Statt oberflächlicher Schlagzeilen durfte ich an diesen Orten in die vielschichtige Tiefe der Problemlagen blicken. Die Diakonie, die Kirche ist hier vor Ort. Sie kennt die Menschen und ihre Probleme. Sie genießt Vertrauen – und ist daher ein Partner, ein sehr geeigneter Ort für den noch ungeübten gemeinsamen Blick nach vorne, über die Gräben und die klaffenden Landschaftslöcher der Lausitz in die mit Skepsis erwartete Zukunft.