Genau 500 Jahre nach den großen drei reformatorischen Schriften Martin Luthers, deren berühmteste den Titel “Von der Freiheit eines Christenmenschen” trägt, ist es still geworden. Nicht nur, weil die Sonne an meinem Zehlendorfer Schreibtisch nun schon um 16.47 Uhr untergeht, nicht nur, weil das in rauen Mengen gefallene Laub die Geräusche dämmt, sondern vor allem, weil nach all dem Freiheits-Pathos der sogenannten “Nuller-Jahre” und der Feierlaune des Reformationsjubiläums 2017 nun eine eigenwillige Ernüchterung, zuweilen auch Ermüdung eingetreten ist.
Die Kirche der Zukunft wird eine Kirche mit anderen sein. Bild: pixabay/Gundula Vogel
Die großen, alten, stolzen Institutionen unseres Landes stehen allesamt unter Druck. In einer “Gesellschaft der Singularitäten”, so der Soziologe Andreas Reckwitz, zählt das “Kuratieren” des eigenen Lebenslaufs, das Design des individuellen Lebens, das sich in der normierten Bilderwelt von Instagram und Co. als einzigartig darstellen soll, und nicht die Zugehörigkeit zu einer Institution, deren zentrale Sinngehalte sich nur noch den wenigsten erschließen. Die Bindungskraft der großen, jahrzehntelang gewachsenen Säulen unserer Gesellschaft lässt rapide nach.
Über eine halbe Million Menschen haben die Kirchen im vergangenen Jahr verlassen. Jenseits der allgemeinen Institutionenmüdigkeit hat in den vergangenen zehn Jahren dabei besonders der Umgang mit dem Thema sexualisierte Gewalt der Glaubwürdigkeit der Kirche enorm geschadet.
Und die Coronakrise, die wir derzeit erleiden, wirkt auf all diese Prozesse noch wie ein Beschleuniger. Monatelange Abstinenz von physischer Gottesdienstpräsenz, Beerdigungen mit zehn Angehörigen, das Verbot von Chor- und Orchesterarbeit, von Kirchenkonzerten und Kirchenkultur drohen bleibende Schäden zu hinterlassen. Dass Seelsorge, gerade an den Schwächsten, den Einsamen in Heimen und den Kranken in den Krankenhäusern, nur noch sehr eingeschränkt möglich war und somit – glaubt man den Umfragen – oftmals nur noch als gering relevant eingestuft wurde, tut ein Übriges dazu.
Es scheint zum Verzweifeln. Ist es zum Verzweifeln? Der protestantische Widerspruch in mir regt sich natürlich sofort. Trotz alledem. Wir sind eine Kirche der Hoffnung. Und eine Kirche des Vertrauens. Keine Kirche des Kleinglaubens und der Skepsis. Am Reformationstag wendet sich der Blick zurück auf die Zeiten der Reformation und ihrer blutigen Bauernkriege, diesen unvorstellbaren Gemetzeln, zurück auf den sogenannten 30-jährigen Krieg, der Europa verwüstete, zurück auf die soziale Frage des 19. Jahrhunderts, als sich Menschen in Scharen von der Kirche entfremdeten und man fragt sich unwillkürlich: Woher nahmen diese Luthers, Gerhardts, Bachs, Schleiermachers, Fliedners, Wicherns, Sievekings die Kraft zu glauben und zu hoffen – gegen allen sichtbaren Augenschein?
Und was taten sie ganz praktisch um ihrer geliebten Kirche neues Leben einzuhauchen? Mir scheint es so, als würde all diese genannten Männer und Frauen eines verbinden: Im Mittelpunkt ihres Bemühens stand nicht der krampfhafte Erhalt der Kirche als Institution, sondern im Mittelpunkt ihrer Hoffnung und ihres Gottvertrauens stand der angefochtene Mensch mit all seinen Herausforderungen, Nöten und Sorgen. All diese genannten Glaubenszeugen waren Grenzgänger. Sie versteckten sich nicht in ihrem Milieu, sondern sie suchten die Grenze, an der Glaube auf Wirklichkeit trifft. “Kirche für andere” hat das Dietrich Bonhoeffer genannt, “Kirche mit anderen”, nenne ich es heute.
Die Kirche der Zukunft wird eine menschenfreundliche Kirche mit anderen Menschen sein: im sozialen Raum der Nachbarschaft, des Kiezes – wie man hier in Berlin sagt-, des Quartiers, des Dorfes, des Stadtteils. Oder sie wird nicht mehr sein. So wie man es teils in Frankreich sehen kann: verstaubte, leere Gerippe, wo kein Gottesdienst mehr gefeiert wird und der nächste Pfarrer weit, weit weg ist.
Kirche erweist ihre Kraft im Zusammenleben mit und für andere. Und zwar auch und gerade an den Klippen, den Rändern, den Graten. Da, wo es ungemütlich wird und rau, da, wo es weh tut. Dort scheint ihr Licht. Kirche der Zukunft wird ihrem Wesen nach diakonische Kirche sein. Das kann in der Bahnhofsmission unter den Kindern am Bahnhof Zoo sein, jetzt, wo es kalt wird. Das kann in der ambulanten Pflege sein, wo eine Pflegerin ihre langen Runden über Land dreht. Kirche kann sich im Anteil nehmenden Zuhören und im einfühlsam formulierten Gebet der Seelsorgerin ereignen oder in der Arbeit mit den um ihre Sicherheit besorgten Prostituierten. Genauso wie im zugigen Camp der Bundeswehr in Masar-el-Sharif.
Die Disruptionen, die wir zur Zeit durchleben und erleiden, markieren einen Haltepunkt, im glücklichen Fall ein reflektierendes, hinhörendes und hinsehendes Innehalten. Es geht also nicht um ängstliches Festhalten an einer vermeintlich morschen Institution oder um deren schwindende öffentliche Bedeutung, um Kirchensteuern und um die Frage, wer in dieser Kirche das Licht ausmacht. Es geht nicht um mehr vom Gleichen. Und bitte auch nicht um Schnellschüsse.
Es geht um neue Mutmach-Geschichten, gespeist aus immer noch sprudelnden Kraftquellen, um Widerstandsfähigkeit und um neue Anfänge mit neuen Verbündeten.
Denn eines haben die Kirche und ihre Diakonie, um das uns viele Unternehmen sehr beneiden: einen klaren “purpose”, ein Ziel, einen Zweck, eine Mission, eine Vision.
In der Bergpredigt heißt es: “Lass Dein Licht leuchten!” – let it shine! Mit den Menschen, mit denen Du gerade Dein Leben teilst.
9,5 Thesen hat die Wittenbergstiftung zu diesem Reformationstag im Coronajahr 2020 versendet. Sie lesen sich für mich wie eine Anleitung zu solchem furchtlosen Leuchten: https://www.evangelische-wittenbergstiftung.de/thesen-corona/