St. Elisabeth – Kirche in Berlin
1. Korinther 3, 11 f.
Friede sei mit Euch, von dem, der da war, der da ist und der da kommt.
Liebe Gemeinde,
Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance:
Die erste Begegnung, der erste Kuss, der erste unverstellte, manchmal überraschende Eindruck von einem Ort oder von einem Menschen gehören zum Wertvollsten. Der erste unverstellte Eindruck öffnet ein Fenster in unserer Seele und durch dieses geöffnete Fenster fällt etwas herein, zeigt und offenbart sich etwas, was uns später durch Gewohnheit und Routinen zu erkennen verstellt ist wie durch spanische Wände.
Mein erster Besuch in diesem Kirchraum ist in mir noch lebendig und gegenwärtig: Diese eindrückliche Mischung aus einem großartig schlichten, immer noch erkennbar meisterlichen Entwurf für eine Vorstadtkirche des Baumeisters Friedrich Schinkel, sichtbaren Narben menschlicher Zerstörungswut und gelungenem Willen zur vorsichtigen Wiederbelebung. Diese gelungene Mixtur aus „Antikischem Baustil“ aus dem 19. Jahrhundert und der Schlichtheit von rotem Backstein. Aus Perfektion und Improvisation, hat mich fasziniert. Schauen sie sich um und gönnen Sie sich den ersten Augenblick.
Wo etwas stimmig ist, spüren wir das oft unmittelbar. Wo ein guter Grund gelegt ist, teilt sich uns das mit. Beim ersten Betreten eines Gebäudes, genauso wie bei einem ersten Spaziergang durch unberührte Landschaften, wie im Kontakt mit einem Menschen. Für diesen ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance.
Erst recht aber spüren wir auf Dauer, was wirklich trägt, was Qualität hat oder eben doch nur ein sich schnell verzehrendes Strohfeuer war. Der erste Sturm der Begeisterung wird schnell zum lauen Lüftchen und manchmal entwickelt er sich zu einer echten Flaute. Dann wird aus Enthusiasmus echte, manchmal tiefe Enttäuschung. Nach dem ersten verzauberten Blick, nach dem ersten Kuss, nach der Begeisterung des Anfangs stellt sich erst recht auf die Strecke eines Lebens heraus, was Qualität hat – oder eben nicht.
Ein echtes Geschenk des Himmels ist es, wenn beides zusammengeht – wenn der erste bestechende Eindruck zur Entdeckung unseres Lebens wird – zum verlässlichen, tragenden Grund.
Aus einem Saulus ist – in einer im Wortsinne umwerfenden ersten Begegnung mit dem Mensch gewordenen Gott, mit dem Gekreuzigten und Auferstanden – ein Paulus geworden.
Und ein von Verfolgung, Gefängnis, menschlichen Schwächen und Eitelkeiten immer wieder gezeichneter, manchmal überwältigter Apostel macht die wunderbare Erfahrung, dass ihn sein Damaskuserlebnis trägt: Der Mensch gewordene Gott taugt als Grund für sein ganzes Leben, er hilft ihm durch Anfechtung und tiefes existentielles Leid hindurch. Er erdet ihn bei Höhenflügen und schenkt ihm Hoffnung in Niederlagen. Das ist die beglückende und befreiende Erfahrung eines Paulus, dem Mund und Lippen übergehen. Der so etwas wie sein Resümee zieht aus einem bewegten und reichen Leben, aus seinen Ups and Downs, aus seinen eigenen großartigen und manchmal ziemlich abschreckenden Seiten, und der dann fast bekenntnisartig diesen Satz formuliert: “ Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Christus.“
Menschen in allen Zeiten, Frauen und Männer, Kinder und Greise, Talentierte und Unvorsichtige, Menschen verschiedener Hautfarben, Gesunde und Kranke, Bilderstürmer und Bewahrer, Unglückliche und Glückliche bauen seitdem auf diesen Grund und teilen mit Paulus eine tragende Einsicht. Durch die Wirrnisse und Abgründe der Menschengeschichte hindurch.
Ein vom Leid des dreißigjährigen Krieges – von Hungersnot, Seuchen und den Übergriffen der Soldaten wahrhaftig gezeichneter, mit beruflichen Misserfolgen und dem Tod von vier seiner fünf Kinder geschlagener Paul Gerhardt findet bei ihm Trost und Halt und dichtet über seinen tragenden Heilserfahrungen und Gewissheiten die wunderbarsten Kirchenlieder:
„Geh aus mein Herz und suche Freud“ – und “ Der Grund, da ich mich gründe, ist Christus und sein Blut; das machet, das ich finde das ewge, wahre Gut. Mein Herze geht in Sprüngen und kann nicht traurig sein, ist voller Freud und Singen, sieht lauter Sonnenschein. Die Sonne, die mir lachet, ist mein Herr Jesus Christ; das, was mich singen machet, ist, was im Himmel ist.“
Diese Sonne lacht und tröstet, scheint über Gerechte und Ungerechte auch im Jahr 1936, in dem sehr unterschiedliche Menschen diesen Satz vom Grund des Paulus als Jahreslosung lesen und hören. Ich stelle mir vor, wie ihn wohl Freiwillige im beginnenden spanischen Bürgerkrieg in den Schützengräben lesen, genauso wie die ersten Opfer der darauf folgenden unsäglichen Gräueltaten. Besiegte und Verlierer lesen und hören ihn – und vermeintliche Sieger. Ich ahne, wie sie Menschen, die sich vielleicht in der Nähe dieser Kirche hier verstecken müssen, zum Trost wird, die von den Nazis unterdrückt und verfolgt werden. Während die hier in Berlin mit den olympischen Spielen einen Sturm der öffentlichen Begeisterung inszenieren.
„Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Christus.“ Und Paulus weiß auch, dass auf diesem Grund nichts Bestand hat, was sich anderen Geistern verdankt: „Wenn aber jemand auf den Grund baut Gold, Silber, Edelsteine, Holz, Heu, Stroh, so wird das Werk eines jeden offenbar werden. Der Tag des Gerichts wird’s klarmachen…“
Neun Jahre später sind Millionen und Abermillionen von Menschen tot, Millionen Menschen verwundet an Leib und an Seele, Familien in ganz Europa gezeichnet bis in dritte und vierte Glied. Gestern haben wir in der Philharmonie den Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „ Euthanasie“ – Morde am Ort der Planungszentrale Tiergartenstraße 4 der Öffentlichkeit übergeben. In der Nacht vom 8. auf den 9. März 1945 brennt auch diese Kirche nach einem Phosphorbombenangriff bis auf die Grundmauern aus.
Und nur wenige Jahre später schreibt der Berliner Regierende Bürgermeister und Pfarrer Heinrich Albertz in einer der besten Meditationen über die Weihnachtsgeschichte, die ich kenne, über seine Erfahrungen mit dieser Geschichte. Er meditiert das, was ihn trägt: Erzählt, dass er diese Geschichte noch als kleiner Junge auswendig lernen musste, von seinem regelmäßigen Hänger bei dem Wort Quirinius, wenn er sie unter dem Weihnachtsbaum vortrug und davon , dass sie ihm so zu einer Art eiserner Ration geworden ist, zum Grund für sein Leben. Er erzählt von seinen ersten Versuchen über diese Geschichte zu predigen und davon, dass ihn seine schlesische Gemeinde früh lehrte nicht über diese Geschichte zu sprechen, sondern von seinen eigenen Erfahrungen mit ihr. Und so erzählt er von seiner Lebensgeschichte mit dieser Geschichte, von dem unbeschreiblichen Licht, das aus ihr auf sein Leben gefallen ist, im Krieg und auf der Flucht, im Glück, vom ersten Weihnachten unter dem Tannenbaum mit dem ersten gesunden eigenen Kind auf dem Arm.
Und dann resümiert er:
„Nicht der Kaiser, sondern dieses Kind. Kein königlicher Palast, sondern der Stall. Nicht die Würdenträger des Landes, sondern die Hirten. Nicht die Macht der Menschen, sondern Gottes Macht. Nichts Riesiges, sondern ein Winzling – mein Herr und mein Gott“
„ Einen anderen Grund kann niemand legen…“
Meine eigenen Lieblingstexte, Lieblingslieder und Psalmen fallen mir ein. Und meine Geschichten mit ihnen. Augenblicke, in denen mir der Gott, der das Leiden der Menschen nicht einfach wegmacht, sondern stellvertretend und anklagend teilt und annimmt, nahe gekommen ist. Mich geerdet hat:
Neue Heilungsgeschichten und Wundergeschichten, Geschichten vom Grund bis heute und wunderbare Worte wie diese, die frisch sind, wie am ersten Tag: Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.
Wer diesem lebendigen und leben schaffendem Grund begegnet, erfährt sich neu. Wie Saulus, der zum Paulus wird und viele nach ihm. Wer dem gekreuzigten und auferstanden Herrn begegnet, entdeckt ganz neue Seiten an sich. Lernt sich noch einmal ganz neu kennen – und schätzen. Lernt wie Paulus, von sich selbst abzusehen, kreist nicht mehr nur um sein Ich und erfährt das Glück einer Begegnung, die mit einem kleinen Dreibuchstabenwort beginnt:
Für. Für dich. Gott für die Menschen. Christus für uns. Christus für/ anstelle Gottes. Wir für ihn, an seiner statt.
Das ist Christentum, das ist Diakonie.
Das ist die Wiege einer Zivilisation, in der die Einen Verantwortung für die Anderen wahrnehmen und miteinander Teilhabechancen verwirklichen.
Von den ersten Diakonen, den Dienern am Tisch des Herrn in den ersten Gemeinden bis zu uns heute in diese Kirche zieht seitdem ein Wärmestrom durch die Geschichte: Von Menschen, Taten und Worten, aus Musik und Liedern, und Kirchenbauten die diesem Grund immer wieder neue Menschen zugewandte, Menschen stärkende und lebensfreundliche Facetten abgewinnen. Frauen und Männer, Alte und Junge, Gesunde und Kranke, Talentierte und Unvorsichtige, Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, mit Stärken und Schwächen, Bilderstürmer und Bewahrer, die gegründet auf Christus, für und mit Anderen nach Lebenschancen suchen und die Kunst der Nächstenliebe üben.
Bodendeckend und manches gelingende Leben gründend in Familien, verbindend und bereit zur Verantwortung in der Nachbarschaft. Herausragend und beispielhaft durch viele namenlose und klangvolle Lebensleistungen Einzelner in der Geschichte der Diakonie und dieses Landes. Schreiend und anwaltlich, im Eintreten für Gerechtigkeit und Frieden. Aufdeckend und erhellend, und immer wieder die Perspektive der besonders Verletzlichen einnehmend: wie auf diesem Foto des Hamburger Fotografen Axel Heimken, der für diese Perspektive auf die Flüchtlinge aus Lampedusa in der St. Pauli Kirche in Altona im Jahr 2013 zu Recht den Sonderpreis des renommierten Pressefoto – Preises „Rückblende“ erhalten hat:
Heilig und ganz profan, Gottes Fingerabdruck auf der Erde.
So bleibt das, was trägt, erfahrbar und nahbar. Auf den ersten und auf den zweiten Blick. Mitten in der unerlösten Welt. Gott sei Dank.