40 Tage tobt der russische Krieg in der Ukraine. Es gibt Zahlen, die haben eine hohe Symbolkraft. Die 7 gilt als Glücks-, die 13 als Unglückszahl. Die 3 steht im christlichen Kulturraum für die Dreieinigkeit, die Trinität.
Überraschenderweise hat auch die Zahl 40 im jüdisch-christlichen Raum einen hohen Stellenwert. Nach der Überlieferung brauchte das Volk Israel 40 Jahre, um auf seiner Flucht aus Ägypten in das gelobte Land zu kommen, das Land, in dem „Milch und Honig fließt“. 40 Jahre voller Entbehrungen, Nahrungsmangel, Irrungen und Wirrungen. 40 Tage und 40 Nächte wanderte Elias bis zum Gottesberg, dem Horeb (1. Könige 19). Und Jesus tat es ihm nach und setzte sich 40 Tage den Versuchungen aus, bevor er öffentlich wirksam wurde. 40 Tage dauert entsprechend die Passions- und Fastenzeit und 40 Tage der österliche Festkreis.
In der kommenden Woche bekommt die Zahl 40 einen weiteren, ganz besonderen, bitteren Geschmack. 40 Tage und 40 nicht enden wollende Nächte dauert nun der Angriffskrieg auf die Ukraine. Ein einziges Schreckensszenario, das menschliches Aufnahmevermögen bei weitem übersteigt und einen hier im wohlbehüteten Deutschland in einer Gefühlsmelange von Angst, Wut, Trauer, Entsetzen, Abscheu, Ekel aber auch – Gott sei Dank – Mitgefühl, Altruismus, Tatendrang, Nächstenliebe und Solidarität erwachen lässt.
Ein leitender, langjähriger Mitarbeiter einer großen bayerischen Diakonieeinrichtung ruft mich an, um seinen angekündigten Besuch in Frage zu stellen. „Ich lebe seit dem 24. Februar in Angstzuständen, die sich zunehmend verdichtet haben. Nach acht Tagen habe ich mich in ärztliche Behandlung begeben. Nun bin ich medikamentiert, Antidepressiva, und es geht mir leidlich damit. Ich weiß nicht, welche Lebenserfahrungen der Ausbruch dieses Krieges in mir getriggert hat.“
Diese kleine Beispielerzählung ist kein Einzelfall. Auf die Corona-Krise, die ja immer noch währt und zehrt, setzt sich nun dieser Albtraum oben auf. Und weckt auch in unserem über Generationen kriegstraumatisierten Volk – von der Ukraine und Polen ganz zu schweigen – das kollektive Gedächtnis der Verheerungen des 20. Jahrhunderts. Ich wache auf, reibe mir die Augen und denke immer wieder: Das kann doch alles gar nicht wahr sein! Was ist rational an diesem Krieg? Er kann auf allen Seiten nur Verlierer haben – weshalb also?
Und meine Kollegin, die Präsidentin von „Brot für die Welt“, Dagmar Pruin, weist mit Blick auf die erwarteten Ernteausfälle zurecht auf die furchtbaren Folgen dieses gewalttätigen Überfalls auf die Ärmsten hin: „ Die meisten Opfer fordert dieser Krieg in der Ukraine schon jetzt im Jemen, in Eritrea, in Äthiopien und in Mali.“
Da schießt mir unweigerlich das „Nachamu, nachamu“ des Propheten Jesaja durch den Kopf, diese Trompetenfanfare des „Tröstet, tröstet mein Volk“, die er nach der Zerstörung (!), nein, nicht Mariupols, sondern Jerusalems herausgeschrien hat, als die Flucht und Vertreibung ins Zweistromland ihren Lauf nahm: „By the rivers of Babylon“ saßen die Menschen und weinten wie heute die traumatisierten BewohnerInnen von Mariupol.
Der Trost – wenn er denn kommt und einen Spalt weit unsere Herzen öffnen kann – kommt zart, zaghaft, auf Augenhöhe und auf leisen Sohlen. Er kommt nicht im Sturm, im Brausen, im Gewitter, schon gar nicht in „Stahlgewittern“, sondern wie ein Windhauch, ein Säuseln, eine zaghafte Frühlingsluft.
Er kommt, wenn bereits vier Tage nach Kriegsausbruch die Stadtmission Freiburg und ihre charismatische Leiterin Katja Potzies 157 Waisenkinder aus der Ukraine aufnimmt. Wohin? Keine Ahnung. Refinanziert? Nebensächlich. Nur raus, raus mit diesen Kindern aus diesem Trümmerfeld, aus dieser Hölle. Und leise, ganz piano, einen neuen Anfang wagen. Da, im Südwesten, irgendwo am Kaiserstuhl.
Der Trost kommt auf leisen Sohlen, wenn die unnachahmliche Leiterin der Diakonie Polen, Wanda Falk, mit ihrer Handvoll Hauptamtlicher und umso mehr Ehrenamtlichen die Wäscheberge der „Reisenden“, wie sie die Flüchtenden würdevoll nennt, anschaut und erst mal vier Waschmaschinen kauft, damit diese dann nonstop den Schmutz aus der Wäsche der Kinder waschen, die über viele lange Tage und Nächte hinweg geflohen sind. An manchen Orten, so beschreibt sie, würde die Wäsche noch per Hand im Freien gewaschen, mit Seife.
Der Trost, er kommt auf leisen Sohlen, wenn unsere Diakonie Katastrophenhilfe wie viele humanitäre Hilfsorganisation so viele, kleine und großen Spenden wie in diesen Tagen bekommt. Und damit den „Reisenden“ eine erste Hilfe und Unterstützung gewähren kann, deren Landeswährung hier gar nicht mehr angenommen oder getauscht wird.
Und wie tröstend ist auch die Hilfe der Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, die in Bielefeld spontan 111 aus der Ukraine geflohene, schwerbehinderte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aufgenommen haben. Kosten? Erstmal egal. „Auf meiner ganzen Reise von Kiew bis nach Deutschland gab es nur helfende Menschen“, sagt die Mutter einer schwerkranken Tochter, die ihr Kind tragen musste. In diesem bewegenden Filmbeitrag des ZDF über die Unterbringung der Menschen in Bethel ist auch zu sehen, wie sich behinderte Bewohner:innen für die Flüchtlinge engagieren.
Eine Berliner Familie berichtet mir, dass sie im Souterrain schnell ein paar Zimmer hergerichtet hat. Dann nahm sie eine junge Mutter mit ihrer Tochter auf; aber dieser erste Versuch wollte nicht gelingen. Die Familie orientierte sich woandershin und bot wieder Unterkunft an; eine junge Mutter mit zwei Söhnen im Grundschulalter teilt sich jetzt die Küche mit ihnen und jetzt geht es auf Schulsuche im Kiez. Die Jungs toben schon im Park herum und machen die Umgebung unsicher.
Es ist die tröstliche Summe der Entscheidungen vieler, vieler einzelner Menschen, die den Unterschied macht. Ob bei der Spendensammlung, ob bei der einzelnen, persönlichen Entscheidung, die eigenen Türen zu öffnen.
Und zur Unterstützung dieser fruchtbaren Aussaat von Nächstenliebe und spontaner Hilfsbereitschaft müssen jetzt gut koordiniert und abgestimmt die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die politisch und gesellschaftlich zu setzen sind. Dabei sollten wir aus unseren Erfahrungen rund um 2015 einiges gelernt haben: Es braucht schnelle, weitsichtige und zuverlässige Koordination auf Bundesebene – im besten Fall im Kanzleramt – genauso wie runde Tische auf kommunaler Ebene, statt eines unabgestimmten Nebeneinanders mit Tunnelblick. Es geht um umgehende Ermöglichung des Schulbesuchs, Bereitstellung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, sprachliche Integration, die Öffnung des Gesundheitswesens und selbstverständlich um die Bereitstellung von Zimmern, von Wohnungen und geschützten Plätzen für die besonders verletzlichen Gruppen, etwa beeinträchtigte oder hochaltrige Menschen.
Ich erlebe die Mitarbeitenden von Diakonie, Diakonie Katastrophenhilfe und von Brot für die Welt in diesen Tagen auf allen Ebenen hoch engagiert. Die Frage nach Sinnhaftigkeit beantwortet sich von selbst. „Aus Liebe“ geschieht das einfach. So einfach ist das – und so schwer für die Opfer.
Liebe und Hass, Frieden und Krieg sind die denkbar schärfsten Gegensätze. Der unnachahmliche Martin Luther hat wunderbar zuspitzend gesagt:
„Entweder Dich reitet Gott – oder der Teufel.“
Ja, so ist das.
Und es wird noch viel länger als vierzig mal vierzig Tage notwendig bleiben, Hungernde zu speisen, Durstigen zu trinken zu geben, Fremde aufzunehmen, Nackte zu kleiden, Kranke zu besuchen und Gefangene zu betreuen.
Gott kann und will aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen, davon bin ich mit Dietrich Bonhoeffer überzeugt. Und ich finde es tröstlich und ich bin dankbar, dass in diesen Tagen so viele beeindruckende Menschen überall in Europa mit ihren „aufrichtigen Gebeten und verantwortlichen Taten“ auf so viele Untaten und so viel Unheil antworten.