Soziale Ungleichheit birgt bekanntlich Sprengstoff für die Demokratie. Wer das aus den Augen verliert, wer zulässt, dass sich Ungleichheiten tiefer in eine Gesellschaft fressen, setzt den sozialen Frieden aufs Spiel. Diese schlichte Einsicht ist im seit Wochen andauernden zähen Ringen um die Kindergrundsicherung mit zu bedenken. Die Diakonie hat sich hier aus fachlichen und anwaltschaftlichen Gründen klar positioniert: für sozialen Frieden und für staatliche Hilfen, die tatsächlich dort ankommen sollen, wo sie dringendst gebraucht werden.
Kinder aus der Armut holen
Worüber streitet die Koalition? Familienministerin Lisa Paus (Bündnis90/Die Grünen) hat einen Bedarf von zwölf Milliarden Euro für die Kindergrundsicherung angemeldet. Eine gewaltige Summe. Paus will Leistungen aufstocken, „um mehr Kinder aus der Armut zu holen“. Sie rechnet zu Recht damit, dass mehr berechtigte Familien tatsächlich Unterstützung beantragen werden, wenn der Antragsweg im Behördendschungel endlich einfacher wird.
Finanzminister Christian Lindner (FDP) findet das „wünschenswert, aber nicht möglich“. Er sieht kaum Spielraum im Haushalt – obwohl im kommenden Jahr mit gesamtstaatlichen Steuereinnahmen in Rekordhöhe von mehr als einer Billion Euro zu rechnen ist. Gebetsmühlenartig verweist er auf bestehende Instrumente wie Kinderfreibeträge und auf die bereits erfolgte deutliche Kindergelderhöhung auf 250 Euro im Monat. Dabei wird er wissen, dass von diesen Instrumenten paradoxer Weise ausgerechnet gut ausgebildete Besserverdienende im besonderen Maße profitieren.
Wer profitiert?
Wer im Niedriglohnsektor arbeitet oder Transferleistungen bezieht, profitiert von Steuerfreibeträgen dagegen gar nicht oder nur geringfügig. Und das Kindergeld gilt, ebenso wie etwa Unterhaltszahlungen, als Einkommen und wird mit dem Anspruch auf Bürgergeld verrechnet. Mitunter ist der Nettoeffekt, das tatsächliche Geld, das bei den Kindern ankommt, bei Familien mit höheren Einkommen tatsächlich höher als bei Familien mit mittlerem oder niedrigem Einkommen.
Eben das zu ändern, hatte die Koalition sich gemeinsam vorgenommen. So steht es völlig zu Recht im Koalitionsvertrag, den auch die FDP mitunterschrieben hat.
Ich möchte es sehr deutlich sagen: Wer jetzt nicht handelt, wer an der Grundsicherung spart, trägt Mitverantwortung dafür, dass sich die Bildungsbiografien von Kindern in Deutschland absehbar immer unfairer entwickeln werden. Das wird die Spaltung der Gesellschaft vertiefen. Denn Kindern in Armut fehlt es sowohl an früher Förderung bereits im Elternhaus wie an unkomplizierten und leicht zugänglichen Hilfen.
2,8 Millionen
In unserem reichen Land sprechen wir über eine bestürzend große Gruppe: In einer Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Januar hieß es, dass schon 2021 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche – das entspricht einem Anteil von 20,8 Prozent – bundesweit von relativer Armut bedroht waren.
An der Kindergrundsicherung zu sparen, schadet genau diesen armutsbetroffenen Kindern und Familien. Diese Familien haben ihre Situation nicht „verschuldet“ – Moralisierungen helfen auch hier nicht weiter – und erst recht nicht verdient, als Bittstellerinnen betrachtet zu werden. Es sind in der Regel strukturelle Gründe, die das Armutsrisiko steigern: Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Migration und Flucht sind die entsprechenden Faktoren. Biografische Faktoren wie Krankheit oder Trennung kommen dazu.
Populistische Neiddebatten
Es ist schon einigermaßen populistisch und bedient eben auch Neiddebatten, wenn behauptet wird, zusätzliche Milliardentransfers für die Kindergrundsicherung würden nicht den Kindern helfen, sondern nur dazu beitragen deren bildungs- oder erwerbsarme Eltern zu alimentieren. Denn sehr viele Menschen, die hart arbeiten und früh aufstehen, sind auf weitere sozialen Hilfen angewiesen. Tatsächlich rackern sehr viele Eltern in unserem Land in Jobs im Niedriglohnsektor und brauchen aufstockende Sozialhilfe, um überhaupt über die Runden zu kommen. Altersarmut droht ihnen trotz alledem.
Für Kinder, die in diesen Haushalten aufwachsen, gebe es bereits Unterstützung, wenden die Grundsicherungs-Kritiker ein. Das stimmt. Aber diese zu beantragen, ist derzeit eben so kompliziert, dass die meisten berechtigten Familien sie gar nicht in Anspruch nehmen, wie eine Befragung der Diakonie Deutschland und anderer Wohlfahrts-organisationen ergeben hat.
Vor allem relativ arme Familien können oft nicht abschätzen, welchen Förderanspruch sie haben und wie sie an diese Mittel kommen. Mit fatalen Folgen: Mehr als die Hälfte der Sozialleistungsansprüche für Kinder verfällt. Dazu kommen die Leistungen, die sich aktuell überschneiden und zum Teil widersprechen: Kindergeld, Kinderzuschlag, Sockel-Elterngeld, Kinderregelsätze, Kinderfreibeträge und Leistungen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket. Niemand blickt da mehr durch!
Geschätzt bis zu 6 Milliarden erreichen so jedes Jahr trotz dringender Notwendigkeit nicht ihr sinnvolles Ziel und verbleiben bei den stattlichen Stellen.
Gezielt unterstützen
Und genau das sollten wir mit der Einführung einer Kindergrundsicherung jetzt ändern. Das Leben vieler Kinder und Eltern würde einfacher: Die Grundsicherung soll ab 2025 verschiedene Leistungen wie Kindergeld und Kinderzuschlag, den Kinderregelsatz des Bürgergelds, den Kinderzuschlag für Niedrigeinkommensbezieher und den Teilhabebetrag für Musikschule oder Sportverein aus dem Bildungs- und Teilhabepaket bündeln.
Die Kindergrundsicherung sieht außerdem mit gutem Recht einen existenzsichernden Sockelbetrag für alle Kinder vor – ohne dafür einen Antrag zu stellen. Und dazu gibt es – sehr sachgerecht – noch weitere Hilfen für bedürftige Kinder, auf die anspruchsberechtige Familien aktiv hingewiesen werden sollen. Ja, auch das kostet Geld – und es ist jeden Cent wert.
Unfairer Wettbewerb
Noch einmal: In Deutschland leben rund drei Millionen Kinder in relativer Armut, das ist inzwischen jedes fünfte Kind in unserem Land. Tendenz steigend! Und wir wissen: diese Armut vererbt sich und setzt sich über Generationen fort. Kinder aus armen Familien haben es sehr viel schwerer, einen guten Schulabschluss zu bekommen. Und damit haben sie automatisch schlechtere Aussichten auf einen ordentlich bezahlten Job. Das ist unfair.
Stellen wir uns einen sportlichen Wettlauf vor: Bislang erreichen Kinder aus reicheren Familien deutlich leichter und schneller das Ziel – beispielsweise einen guten Schulabschluss: Sie laufen quasi nur hundert Meter, während die anderen Kinder ein Vielfaches der Strecke zurücklegen müssen. Das ist nicht nur unfair. Hier verschenken wir als älter werdende Gesellschaft das Potenzial von vielen Mädchen und Jungen, die gerne eine echte Chance hätten und verdient haben.
Eine Kindergrundsicherung kann hier wirksam gegensteuern. Zu oft fehlt es oft am Nötigsten, um die Kinder zu unterstützen: an Geld für Bücher, Malstifte, Spiele, gute Kleidung, gesundes Essen, Sport. Vom Computer gar nicht zu reden. Die derzeitigen Hilfen im Bildungs- und Teilhabepaket bleiben weit hinter den tatsächlichen Schulkosten zurück, und der Regelsatz reicht nicht aus, um z.B. den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung zu folgen.
Entscheidend wird auch sein, das Existenzminimum realistisch zu berechnen. Studien im Auftrag der Diakonie Deutschland zeigen, dass bei der Regelsatzermittlung derzeit unzureichend begründete und systematisch unsinnige Abzüge erfolgen. Insgesamt liegt die Summe dieser Streichungen bei fast 78 Euro bei den ältesten Kindern. Dabei ist in Trennungsfamilien der Bedarf an Unterstützung höher als in Familien, bei denen Eltern und Kinder in einem Haushalt wohnen. Das muss sich in den Zusatzbeträgen für die Kindergrundsicherung niederschlagen: Je höher die Belastung der Eltern, desto höher sollte die Förderung sein. Und es muss einfach sein, sie zu beantragen.
Kraft der Nachbarschaft
Wichtig bleibt: Immer gehört das Instrument der Kindergrundsicherung in ein Setting der strukturellen Förderung im Sozialraum der Familien. Dort, wo Familien leben, müssen sie Unterstützung finden. Es geht darum, die Kraft der Nachbarschaft zu stärken.
Gerade für armutsbetroffene Kinder, Jugendliche und Familien, darunter sehr viele alleinerziehende und kinderreiche Familien, sind soziale Einrichtungen nicht nur in Krisenzeiten wichtige Anlaufstellen. Das können Familien- und Jugendzentren sein, Nachbarschaftsclubs oder Elterntreffs. Oder auch eine aktive Kirchengemeinde um die Ecke. Sie sind Begegnungs-, Bildungs-, Gesundheits-, Beratungs- und Erfahrungsorte, die an nachbarschaftliche Lebenszusammenhänge anknüpfen und für viele den Stellenwert eines zweiten Wohnzimmers haben.
Dort, wo Familien zunehmend unter Druck geraten, können diese Einrichtungen und ihre vielfältigen Angebote gezielt entlasten und durch frühzeitige Unterstützung einen wichtigen Beitrag zum präventiven Kinderschutz leisten. In der Diakonie haben wir Know-how und Strukturen dafür, aber zu oft fehlt eine langfristige und vernünftige finanzielle Ausstattung.
Zukunftsfester Sozialstaat
Ein diakonisches Familienzentrum, das jedes Jahr Angst um seine Finanzierung haben muss, kann nicht effektiv arbeiten. Und natürlich treffen solche Unsicherheiten die armutsbetroffenen Familien, die auf die kostengünstigen Angebote des öffentlichen Zentrums angewiesen sind härter, als die wohlhabenden Kinder, deren Familien ohne Probleme etwa die privaten Musikstunden bezahlen.
Für einen familienfreundlichen zukunftsfesten Sozialstaat braucht es darum nicht nur die Kindergrundsicherung. Hier haben die Kritiker:innen recht. Es braucht in jedem Viertel, in jedem Ort offene Türen zur Teilhabe – verlässlich finanzierte Anlaufstellen, bei denen man sich informieren kann und die Wege zu weiteren Angeboten und Hilfen weisen.
Politischer Wille
Mit der Kindergrundsicherung hat die Regierung die historische Chance, die Startblöcke für alle Kinder endlich auf dieselbe Linie zu bringen. Unsere Kinder sind unsere Zukunft. Alle Kinder. Dass sie gute Startbedingungen haben ist nicht nur wünschenswert, sondern auch möglich. Dazu braucht es politischen Willen.