Das Schweigen brechen, die eigenen leidvollen Erfahrungen teilen – Was das bedeutet und welchen Weg Betroffene dafür zurücklegen müssen, sehen wir aktuell sehr eindrücklich in der Dokumentation „Glaubt mir! Missbrauch in der Therapie“ in der Serie 37 Grad Leben im ZDF.
Max erlebte als 7-jähriges Kind sexualisierte Gewalt durch seinen Kinderpsychologen. Die Mutter suchte den Fachmann auf, als Max in der Schule Schwierigkeiten hatte, wandte sich hilfesuchend an ihn und vertraute ihm ihr Kind an. Sie hoffte, dass Max dadurch Ängste abbauen, mehr Selbstvertrauen gewinnen und schließlich besser lesen und schreiben lernen würde. Was sie nicht wusste, war, dass dieser Kinderpsychologe in ihrer Abwesenheit Max schwer sexuell missbrauchte. Erst durch eine Bemerkung des Psychologen über das „gemeinsame Baden“ wurde sie hellhörig und fragte Max im Vertrauen. Schließlich musste Max die Therapie nicht mehr besuchen.
Inzwischen ist Max Mitte 20. Die Dokumentation von Stephanie Schmidt zeigt seinen mutigen Weg in die Öffentlichkeit und seinen Kampf um juristische Gerechtigkeit. 10 Jahre lang hat Max mit seiner Mutter darum gekämpft, dass der Täter strafrechtlich verurteilt wird und er als Betroffener Glauben findet.
Die Dokumentation erschüttert. Sie zeigt, welche tiefen Narben die Erfahrungen von sexualisierter Gewalt in der Kindheit hinterlassen. Und sie macht auch sprachlos: Nur durch einen weiteren Betroffenen, einen weiteren Zeugen im Verfahren ist es gelungen, dass der Täter verurteilt wird. Aber sie zeigt auch: Durch die Gemeinschaft seiner Kameraden in der Feuerwehr findet Max Halt und empfindet Zugehörigkeit, durch eine Therapie erfährt er Stabilisierung und Stärkung. Er steht fest im Leben. Trotz allem. Diese Kraft und dieser Mut beeindrucken mich. Und sie zeigen, dass viele Menschen dazu beitragen können, Menschen zu stärken, die gewaltbetroffen sind.
Wir als Diakonie Deutschland setzen uns dafür ein, dass Betroffene sexualisierter Gewalt gehört werden. Wir wissen, dass auch in unseren Einrichtungen uns anvertraute Menschen sexualisierte Gewalt erlebt haben. Wir setzen uns darum für den Schutz und die Anerkennung betroffener Menschen ein. Auch durch unsere Teilnahme im Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt zusammen mit der EKD.
Aber wir kämpfen auch für strengere strafrechtliche Standards: Dass sexualisierte Gewalt in der Therapie und Beratung strafrechtlich durch den §174c des Strafgesetzbuches geahndet wird, ist richtig. Dass es bislang noch keine strafrechtliche Verfolgung von sexuellem Missbrauch im Kontext der Seelsorge gibt, ist eine Leerstelle, die bearbeitet werden muss. Denn auch in Kontexten der Seelsorge vertrauen sich Menschen mit ihren individuellen Nöten und Sorgen einem anderen Menschen an, sie zeigen ihr Innerstes. Die professionsethischen Standards gebieten es, dass dieses Vertrauen nicht instrumentalisiert wird. Dass es nicht zum Vertrauensbruch, zu seelischer oder sexualisierter Gewalt kommt. Wir unterstützen darum die Initiative zusammen mit der EKD für eine Integration des „Missbrauchs in der Seelsorge“ in den §174c des Strafgesetzbuches. Denn wir wollen, dass Menschen sich in der Seelsorge, ebenso wie in der Therapie oder Beratung, geschützt fühlen.
„Es ist für mich wichtig, darüber zu reden, um dieses Stigma von Missbrauch, dieses Schweigen, etwas zu brechen und damit zu erreichen, dass – hoffentlich – Täter immer weniger Chancen haben, damit durchzukommen.“ Max ist es wichtig, über seine Erfahrungen zu sprechen, nicht zu schweigen, sondern sichtbar zu sein mit seinem Leid, aber auch in seiner Stärke, dieses Leid überwunden zu haben.
Wir machen immer wieder die Erfahrung, wie wichtig es ist, dass betroffene Menschen gehört werden, dass sie mitentscheiden und eine Plattform bekommen. Im Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt von EKD und Diakonie Deutschland geht es auch darum, dass Betroffene Teil des Diskussionsprozesses sind, dass sie über Möglichkeiten der Aufarbeitung oder der finanziellen Anerkennung von Leid mitbestimmen. Auf der Synode der EKD in Ulm, die in dieser Woche stattgefunden hat, hat das Beteiligungsforum etwa einen Vorschlag zur Vereinheitlichung der Höhe der Anerkennungsleistungen unterbreitet, aber auch über die geplanten Unabhängigen Regionalen Aufarbeitungskommissionen berichtet. Betroffene Menschen sind hierbei nicht nur beratend, sondern auch mitbestimmend aktiv. Beschlüsse werden nur mit doppelter Mehrheit von Betroffenenvertreter:innen und den Leitungsvertreter:innen aus Kirche und Diakonie getroffen. Das Beteiligungsforum ist für uns ein Weg, wie Betroffene erfolgreich in Gremien eingebunden werden können. Aber auch daneben muss es Formen der Aufarbeitung, des Zuhörens und Sich-Anvertrauens geben.
Als Max seinen Kameraden aus der Feuerwehr erstmals von seiner schweren Kindheit berichtet, findet er eindrückliche Worte: „Ich bin dankbar dafür, dass ich das heute mit euch teilen konnte. Diese Gemeinschaft heute zu erfahren und auch eure Reaktionen, das gibt mir Kraft. Weil ich zum ersten Mal mit einer größeren Menschenmenge mein Leid teilen kann.“ Leid teilen, Anteilnehmen, Zuhören, Dasein. Diese Grundwerte der Nächstenliebe sind besonders da wichtig, wo Menschen Leid erfahren haben, wo die Gemeinschaft in der Gegenwart ein Gegengewicht zur Schwere der Vergangenheit bilden kann.
Seine Kameraden schätzen Max‘ Mut, sich ihnen anzuvertrauen: „Danke, Max, für das Vertrauen in uns. Das ist viel wert.“ entgegnet sein Kamerad bei der Feuerwehr und ergänzt: „Wir holen dich immer aus dem Wasser.“ Eine solche starke Gemeinschaft, die auffängt und sprichwörtlich rettet, wünsche ich uns allen in dieser Novemberzeit. Und ein offenes Ohr und Herz für Menschen, die unsere Hilfe brauchen und sei es nur, dass man zuhört, da ist, anteilnimmt und Leid teilt.