Gut Kirschen essen

„Das mit den Flüchtlingen regt mich auf. Das stimmt doch alles nicht.“ Die Frau, Mitte 50, Berlinerin, wurde energisch. Sie habe schon vor Monaten beschlossen, keine Nachrichten mehr zu verfolgen. Als gäbe es keine anderen Themen. Wo sie denn bitte wären, diese Flüchtlinge? All das Gezeter um eine Islamisierung Deutschlands, das sei doch Quatsch. In ihrem Alltag hätte sich rein gar nichts verändert. Sie habe sich durch Medien und Internet manipuliert und aufgehetzt gefühlt.

Kirschen in einer Schale
Lieber Kirschen pflücken statt Zeitung lesen – geht das?

Das wolle sie nicht zulassen. Darum habe sie sich eine Nachrichtensperre verordnet. Es sei früh genug, sich eine Meinung zu bilden, wenn tatsächlich Flüchtlinge in ihrem Leben auftauchten. Von Angesicht zu Angesicht. Und jetzt führe sie in den Garten. Zum Gießen.Ein zufällig erlauschtes Gespräch in der S-Bahn am frühen Morgen. Aber es geht mir nicht aus dem Kopf: Dass die Anwesenheit von Flüchtlingen als bedeutungslos bezeichnet wird, das hört man derzeit eher selten. Man kann so ein Statement natürlich als „ahnungslos“ disqualifizieren. Andererseits wirft es ein interessantes Licht auf den Zusammenhang von Fakten und ihrer Wertung. Und es weist darauf hin, dass unsere medial eng verflochtene Gesellschaft vielleicht doch gar nicht so eng verflochten ist, wie ich annehme. Wie viele Informations-Aussteiger wie diese Frau aus der S-Bahn mag es geben? Männer und Frauen, die sich kopfschüttelnd abwenden vom Markt der Meinungen und lieber in den Garten gehen, oder zum Sport. Oder die schlicht mehr als genug damit zu tun haben, einen Weg zu finden, wie sie die Reparatur der Waschmaschine und die Klassenfahrt der Jüngsten bezahlen sollen. Es gibt sicher viele von ihnen.

Meist reagiere ich verständnislos auf so ein Verhalten. Es erscheint mir falsch, ja, verantwortungslos, sich der Information zu entziehen. Das Integrationsgesetz etwa, was gerade im Kabinett beraten wurde und bald im Bundestag beschlossen wird, stellt Weichen für so viele Menschen, für ihre Chancen in unserer Gesellschaft anzukommen, Lohn und Brot zu finden, Wurzeln zu schlagen, sich zu identifizieren mit unserem Land. Viele hier im Diakonie-Bundesverband in Berlin arbeiten mit großem Engagement und mit Sachkunde daran, auf diese Weichenstellung Einfluss zu nehmen. Zu verhindern, dass Familien auseinandergerissen werden, dass Kranke wegen Sprachproblemen nicht die ärztliche Versorgung bekommen, die sie brauchen, dass Männer und Frauen monatelang nichts anderes tun können, als in engen Massenunterkünften viel zu lange zu warten in nagender Angst doch noch abgeschoben zu werden, dass Kindern der rasche Zugang zu Bildung verweigert wird. Wir weisen darauf hin, dass es falsch ist, Asylsuchende wie potentielle Erbschleicher zu behandeln, ihnen pauschal zu unterstellen, dass sie sich nicht integrieren wollten. Wir sind sicher: Gerade diese in Gesetze gehüllte abweisende Haltung transportiert sich. Sie verhindert Integration. Dagegen wollen wir uns wehren.

Also verfolge ich die Berichterstattung, lese Verlautbarungen und Gesetzesentwürfe. Schaue auch ins Netz, um ein möglich vollständiges Bild zu bekommen. Gehe natürlich auch vor Ort. Alles hilft, um in Diskussionen mit Politikerinnen, Journalisten, mit Menschen andere Gesinnung besser argumentieren zu können. Zugegeben: Nicht immer lese ich selbst. Auch mein Tag hat nur 24 Stunden. Doch wir sind ein gutes Team, und ich werde unterstützt von kompetenten Kolleginnen und Kollegen, die sich auf dem neuesten Stand halten. Also: Ich halte mich informiert. Ich halte das für meine Pflicht als Diakoniepräsident – aber auch als mündiger Bürger unseres Landes.

Und dann höre ich diese Frau, die lieber in den Garten geht, als sich über Flüchtlinge zu informieren. Ich gebe zu: Da schwillt mir der Kamm. Zunächst. Doch was hätte ich dieser Frau in dieser Situation sagen können? Wäre es angebracht gewesen, sie auf ihre Informationspflicht als Bürgerin hinzuweisen? Für sie wäre ich nur ein wildfremder Anzugträger in der S-Bahn gewesen, noch einer, der eine dicke Lippe riskiert. Sie hätte sich geärgert – und das zu recht. Und trotzdem bleibt die Frage: Wie viele von ihrer Art gibt es? Und sind sie Risiko oder auch eine Chance in unserer Mediengesellschaft? Ich tendiere dazu, sie als Risiko wahrzunehmen, sie ähnlich gefährlich zu finden, wie diejenigen, die „Lügenpresse“ skandieren.

Im Umgang mit den Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, machen wir in der Diakonie uns für das Prinzip der Einzelfallprüfung stark. Und wir gehen mit einer eher positiven Grundhaltung auf die Menschen zu. Das liegt im christlichen Menschenbild begründet. Konsequent wäre, das auch für diese Medienverächterin und Gartenfreundin gelten zu lassen. Ich weiß nichts über sie. Wie kann ich sie verurteilen? Immerhin sagte sie ja, es sei früh genug, sich mit den Flüchtlingen zu beschäftigen, wenn sie in ihrem Leben auftauchen. Ich will das Beste hoffen. Wichtiger, als das sie gut informiert ist, wird sein, wie sie in ihrer Kleingartensiedlung mit den neuen syrischen Freunden ihrer Parzellennachbarn umgehen wird. Ich hoffe, dass sie eingeladen werden: Zur Kirschernte mit anschließendem Grillen.