Das Personalpronomen „Wir“ ist ebenso einvernehmend wie unpräzise. Ob „Wir sind Papst!“ – Schlagzeile der Bildzeitung 2005 nach der Wahl des Kardinals Joseph Ratzingers zum Bischof von Rom – oder Angela Merkels „Wir schaffen das!“ von 2015. „Wir“ suggeriert ein Bild von Geschlossenheit und Einigkeit und vereinnahmt die Leistung eines anderen für eine Gruppe: „Wir sind Weltmeister“ gehört auch in diese Liga. Ich ertappe mich selber immer wieder dabei, ins „wir“ zu rutschen, wenn ich meiner Position mehr Gewicht verleihen möchte.
Dabei reagiere ich selbst auf unzulässige Verallgemeinerungen in der Regel eher ärgerlich und habe den schönen Spontispruch im Hinterkopf: „‚Wir sind doch alle Individualisten.‘ – ‚Ich nicht.‘“
Und trotzdem: „Wir schaffen das.“ Dieser Satz gefällt mir immer noch. Ich fand und finde ihn mutig und zukunftsorientiert. Auch wenn „wir“ weiterhin viel darüber zu streiten haben, wie „wir“ das schaffen werden: die erfolgreiche Integration der zu uns Flüchtenden, eine gemeinsame europäische Haltung angesichts dieser politischen und menschlichen Jahrhundertherausforderungen genauso wie die Beseitigung der Fluchtursachen. Ich bin überzeugt, dass es in diesem Fall zu einem „Wir“ keine Alternative gibt. „Wir“, das sind nicht „Wir Deutsche“ oder „Europäer“ oder „Wir Gutmenschen aller Länder“.
Wir – das ist die Menschheit auf einer kleiner gewordenen Erde mit begrenzten Ressourcen. Wir Menschen. Alle. Kleiner oder weniger komplex geht es auf unserem Heimatplaneten in Zeiten der Globalisierung nicht mehr: Wir Menschen, jede und jeder ein Unikat, jede und jeder Teil einer konkreten Gemeinschaft, müssen gemeinsam Wege für uns alle finden, um in Frieden und Gerechtigkeit miteinander zu leben. Ich lasse mich gerne als hoffnungslos naiv beschimpfen – aber ich bleibe dabei: Dass wir alle Gottes geliebte Kinder sind und ein Recht auf ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit haben, ist eine himmlische Inspiration, die mich immer wieder aufs Neue antreibt. Auch wenn mir bewusst ist, dass ihre Verwirklichung nur fragmentarisch gelingen wird, dass „wir“ immer wieder von vorne beginnen und die Folgen unserer Ideen und Konzepte zu verantworten haben. Aber auch eine Verantwortungsethik braucht eine Letztbegründung, einen hoffnungsvollen Horizont: Gerade „wir“ in Kirche und Diakonie dürfen nicht aufhören im Horizont der Hoffnung zu denken und zu handeln. Es gibt genug Mitmenschen in unserer meinungsvielfältigen Gesellschaft, die das anders sehen.
In der südafrikanischen Philosophie gibt es einen Begriff, der diese Haltung zum Ausdruck bringt: Ubuntu – Europa kann lernen von diesem afrikanischen Denkansatz, der mit den Fluchtbewegungen und durch Migration auch in unsere Gesellschaften sickert. Der Mensch wird erst Mensch durch die anderen Menschen, das ist der Kern dieser Philosophie. Wir brauchen einander. Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu erklärt in einem Interview, das er schon 2009 dem Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. gegeben hat, was sich hinter dieser Lebensphilosophie des Ubuntu verbirgt. Ich finde, man kann Desmond Tutu auch als Kommentar zu Angela Merkels „Wir schaffen das!“ hören. Tutu präzisiert sogar: „Wir schaffen das nur gemeinsam.“
*Übersetzung Video von Desmond Tutu: Ubuntu bedeutet: Ich brauche Sie, um ich zu sein, genauso wie Sie mich brauchen, um Sie selber zu sein. Es bedeutet, wir sind miteinander verbunden. Ohne andere Menschen hätte ich nie gelernt wie ein menschliches Wesen zu reden, zu gehen oder zu denken. All das weiß ich von anderen menschlichen Wesen. Ich brauche also tatsächlich andere menschliche Wesen, um überhaupt erst menschlich zu werden. Ein Mensch wird überhaupt erst durch andere Menschen zu einem Menschen – das liegt auf der Hand.
Tatsächlich bedeutet Ubuntu: Sie und ich und alle anderen Menschen sind Mitglieder ein und derselben Familie. Sie sind mein Bruder, sie dort ist meine Schwester… Egal, ob die Hautfarbe dunkel ist – wie meine – oder hell, wie die Ihre. Wir sind alle Mitglieder derselben Menschheitsfamilie. – Sie würden Ihren Bruder oder Ihre Schwester nicht verletzen wollen. Sie würden Ihre Schwester, Ihren Bruder, ja, niemanden aus Ihrer Familie niederstechen. Sie würden nicht erwarten, dass Ihnen gegenüber Gewalt angewendet wird. In einer Familie tun Bruder und Schwester einander normalerweise nichts an. Es sollte keine Gewalt zwischen ihnen herrschen. Wenn es aber doch so ist, dann stimmt etwas mit der Familie nicht.
Die Zukunft unserer Welt liegt in den Händen von euch jungen Leuten. Ihr habt es in der Hand, ob die Welt ein barmherziger oder eine unbarmherziger Ort wird, ein grausamer Ort. Sie haben es in der Hand: Wird die Welt ein Ort sein, an dem Ihre Kinder großwerden können – mit freundlichen, mitfühlenden, liebenswürdigen Menschen. Ihre Wahl. Die Welt liegt in Ihren Händen. – Junge Leute müssen von einer Welt träumen, in der weder Armut, noch Krieg, noch Gewalt, noch Krankheit herrscht. In der alle Kinder genug zu essen und zu trinken haben. Das ist für die ganze Welt möglich. Und ich wünsche mir, dass die jungen Leute nicht aufhören von dieser Welt zu träumen.“ (Übersetzung Diakonie Deutschland)