Die Berliner Verkehrsbetriebe BVG ist in der Hauptstadt bekanntermaßen die Herrscherin über Busse, U-Bahn, Tram und auch einige Fährverbindungen. Wer wie ich viel mit dem ÖPNV unterwegs ist, kommt nicht darum herum, zu diesem Unternehmen eine Beziehung zu entwickeln. Emotional schwankt sie zwischen großer Dankbarkeit und tiefer Verzweiflung und kennt alle Schattierungen dazwischen.
Ein Gefühlscocktail, der allen Menschen, die in Deutschland auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen sind, vertraut sein dürfte. Und – Achtung Kurve! – denen, die parlamentarische Demokratie für ein nützliches politisches Verkehrsmittel halten, wahrscheinlich auch. Man schimpft, glaubt zu wissen, wie es besser ginge – nur abschaffen will man sie nicht. Auch das haben die BVG und die parlamentarische Demokratie gemeinsam.
Rund eine Milliarde Fahrgäste transportieren die gelben Busse, Bahnen etc. durch Berlin. Die unterschiedlichsten Menschen. Es gibt Linien, in denen sich die Stadtteile, die Nationalitäten, die Milieus beeindruckend mischen: Männer, Frauen, Kinder und andere sitzen schweigsam nebeneinander. Das Gespräch wird eher nicht gesucht. Die meisten wollen wie ich nur von A nach B und lassen sich ansonsten in Ruhe. Es ist ein pragmatisches Miteinander. Geprägt von einem pragmatischen Mix an Toleranz und Geduld, den die allermeisten auch aufzubringen bereit sind. Manchmal mit einer würzenden Prise entwaffnender Freundlichkeit. Selbstverständlich gibt es immer wieder Spannungen, Stress, laute Worte, auch Gewalt – aber im Großen und Ganzen sind die Menschen erstaunlich friedlich. Man könnte sagen: Es verbindet im Wortsinne eine konstruktive Art von Gleichgültigkeit. Mich überrascht immer wieder, wie ruhig es in einem vollgestopften U-Bahnwaggon sein kann.
Ich verurteile diese „Gleichgültigkeit“ nicht als Ausdruck einer kalten großstädtischen Anonymität. Ich bin überzeugt, dass diese „Gleichgültigkeit“ auch viel Rücksichtnahme und Respekt in sich trägt. Sie ist, so weit würde ich gehen, eine Bedingung für das Gelingen von Pluralismus in jedem Wagen der BVG. Regelmäßiges U-Bahn fahren in einer Großstadt trainiert Demokratie und Toleranz, könnte man sagen.
Das ist ein bisschen mehr als ein schräges Gedankenspiel: Wo viele unterschiedliche Menschen auf begrenztem Raum, mit begrenzten Ressourcen miteinander leben müssen – zum Beispiel in Berlin, in Deutschland, Europa oder auch auf unserem Planeten – braucht es diese tolerante, duldsame „Gleichgültigkeit“ und Rücksichtnahme. Jedenfalls wenn man Gewalt vermeiden will. Die Verschiedenen müssen einander nicht lieben, auch im Pluralismus nicht: Es reicht wenn sie sich respektieren. (Und natürlich hilft es beim Respektieren, wenn die Ressourcen und Teilhabe fair geteilt sind!)
Diese Haltung der Rücksichtnahme dem Andersartigen gegenüber entsteht nicht von selbst, sie ist eine Kulturleistung und sie muss eingeübt werden. Wieder und wieder. Und das kann man eben auch in der U-Bahn tun, oder in Bus, Tram etc. Es ist das kleine Einmaleins unserer freien Gesellschaft: Niemandem darf wegen seiner Hautfarbe, seiner Religionszugehörigkeit oder seiner sexuellen Orientierung etc. das Recht zum „Mitfahren“ verwehrt werden. Nicht in unserem Gemeinwesen, und auch nicht in der BVG.
Natürlich kann Gleichgültigkeit in eine destruktive „Scheiß-egal-Haltung“ kippen, aber das muss nicht sein: Wer gleichgültig ist, lässt den anderen gleich gelten. Der Öffentliche Nahverkehr organisiert die unterschiedlichsten Menschen, eine Demokratie im Pluralismus organisiert das Zusammenleben vielfältiger Milieus. Nicht durch Angleichen, sondern dadurch, dem Anderssein seinen berechtigten und sinnvollen Raum zu geben. Ja, das ist manchmal anspruchsvoll, manchmal eine Zumutung, aber darunter geht es nicht.
Der für kirchliche Ohren etwas vorlaute Slogan der BVG lautet seit Anfang 2015 „Weil wir dich lieben“. Ein geradezu diakonischer Zungenschlag, klingt doch fast wie ein Slogan von uns: In der Nächsten Nähe oder Wir sind Nachbarn. Alle. – Nach viel Spott der Kundinnen und Kunden, die sich angesichts von Ticketpreisen und Verspätungen von so viel Zuneigung auf den Arm genommen fühlten, und der BVG das herzliche Getue nicht abnahmen, ist die Kampagne inzwischen zu einem Sympathiefaktor geworden. Selbstironie war das Mittel zur Wahl.
Ich möchte die Parallelisierung von BVG und Demokratie noch ein wenig weiter strapazieren. Wie käme der Werbeslogan der Bundesrepublik Deutschland: „Demokratie – Weil wir dich lieben!“ wohl beim Wahlvolk an? Der Shitstorm wäre gewaltig. Aber vielleicht würde sich auch hier die Stimmung mit der Zeit drehen lassen: mit Humor, mit Pragmatismus und mit Respekt und mit gerechter Ressourcenverteilung. Weil wir mit dieser Demokratie alle ziemlich gut fahren – seit mehr als 70 Jahren.