Die kommenden beiden Tage werde ich in Dresden verbringen. Sogar mit Blick auf Elbe und Stadtsilhouette. Die Konferenz Diakonie und Entwicklung (KDE), unsere jährliche Mitgliederversammlung und das höchste Beschlussgremium des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung, tagt dort im Internationalen Congress Center. Die Konferenz – das sind 112 Delegierte, aus den Kirchen, den Landes- und Fachverbänden und Ausschüssen – ist ein kleiner Kosmos für sich. Und eine Christentagung im säkularisierten Sachsen.
Unser Schwerpunktthema heißt: Integration. Es geht um Geflüchtete, aber auch um andere Menschen mit Migrationshintergrund, und es geht um uns. Es geht vor allem darum, wie sich gesellschaftlicher Zusammenhalt im Einwanderungsland Deutschland in einer globalisierten Welt stärken lässt. Wie lassen sich „Einigkeit und Recht und Freiheit“, die in unserer Nationalhymne erst jüngst in Dresden besungen (und ausgepfiffen) wurden, in unserer vielfältiger und widersprüchlicher werdenden Gesellschaft mit Leben füllen? Welche Rolle können Diakonie und Kirche dabei spielen?
Ich bin überzeugt: Zusammenhalt in einer pluralistischen Gesellschaft organisiert sich nicht allein und erst recht nicht zuerst über gemeinsame Werte. Deswegen halte ich Leitkulturdebatten für wenig hilfreich. Oder andersrum gesagt: Unsere Gesellschaft steht auf der Basis einer freiheitlichen und bewährten Verfassung, sie zerfällt nicht, wenn ihre Mitglieder auf dieser Basis verschiedene Werte, Interessen, Vorlieben entwickeln. Sie zerfällt aus anderen Gründen: Zusammenhalt braucht Zufriedenheit. Und Zufriedenheit wurzelt in der Erfahrung von Teilhabe. Der Soziologe Hans Joas, der sich ausführlich mit der „Entstehung von Werten“ beschäftigt hat, sagte im Sommer in einem lesenswerten Interview in der Wochenzeitung „Die Zeit“: „Eine Gesellschaft braucht für ihren Zusammenhalt keineswegs in erster Linie gemeinsame Werte. Was eine moderne Gesellschaft bei allen Unterschieden zusammenhält, ist das Gefühl a l l e r Gruppen, gehört zu werden, sowie das grundlegende Gefühl der Gerechtigkeit. Wenn beides nicht mehr gegeben ist, bekommen Gesellschaften ein Problem.“
Dieses Gefühl ist in Deutschland ganz sicher gestört. Und nicht nur das Gefühl: Es sind harte Fakten und soziale Realitäten, die vielen das Leben schwer machen. Es gibt ganze Regionen, Städte, Stadtteile in unserem Land, die abgehängt sind von der positiven Wirtschaftsentwicklung; und es gibt Menschen, die dort leben, die viel zu wenig gehört werden und die viel zu wenig Anteil am Wohlstand und Fortschritt unserer Gesellschaft haben. Deren Probleme werden vor allem vor Ort, in diesen Kommunen im Ruhrgebiet oder in diesen kleinen Städten und Dörfern in Sachsen-Anhalt und in Sachsen sichtbar. Und hier verstärken sich – je nach Region – die individuellen und strukturellen Armutsrisiken gegenseitig. Es macht in Deutschland inzwischen einen Unterschied, ob man in Oberhausen oder in Stuttgart oder in Cottbus in einer armen Familie geboren wird, erst recht in einer wohlhabenden. Das ist sozialer Sprengstoff für den Zusammenhalt in unserem Land. Und das muss sich ändern, dafür setzt sich Diakonie ein.
Dafür setzt sich das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung auch weltweit ein, denn die Frage nach Teilhabe, nach Gerechtigkeit und Gehörtwerden steht auch für entscheidende globale Herausforderungen. Wir lernen, dass der junge Mann, der in Hamburg unter der Brücke schlafen muss, und die junge Frau, die einem Dorf in Äthiopien keine Zukunft findet, nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Beide brauchen eine Perspektive in ihrem Land, wenn wir eine friedliche Perspektive für das Zusammenleben aller suchen.
Das ist der Hintergrund, auf dem nachhaltige und das bedeutet global gedachte Konzepte für mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt auch in unserer Einwanderungsgesellschaft bedacht und entwickelt werden müssen. Wer Wertepluralismus und Freiheit gut findet und sich Zusammenhalt wünscht, sollte also für Gerechtigkeit sorgen. Denn die allgemeine Erfahrung von Teilhabe hält eine Gesellschaft zusammen. Solche Teilhabe an Bildung, Arbeit und gesellschaftlicher Mitgestaltung für alle Menschen mit und ohne Migrationshintergrund zu ermöglichen – das ist unsere wichtigste Aufgabe, wenn wir unsere freiheitliche und soziale Demokratie und `offene Gesellschaft` als ein Erfolgsmodell weiter entwickeln wollen. Wie das aussehen kann, darüber werden wir in Dresden diskutieren.