Noch bis Samstag bin ich in Russland unterwegs. Hier besuche ich unter anderem einige soziale Projekt, wie die NGO „Neue Perspektiven“, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung einsetzt. Ich möchte gerne einige Eindrücke teilen:
Gregory (Namen geändert) möchte irgendetwas mit Computern machen, wenn er endlich in seiner eigenen Wohnung leben und einem selbstbestimmten Leben nachgehen kann. Und Pjotr will endlich einmal mehr Geld verdienen als das bisschen Taschengeld, das er bisher in der Werkstatt der großen Behinderteneinrichtung für seine Arbeit erhalten hat, in der er wie Gregory und seine beiden Mitbewohner seit ihrem ersten Lebensmonat leben müssen.
Die meisten Säuglinge mit Behinderungen werden den Eltern in Russland bereits unmittelbar nach der Geburt weggenommen, manche schlicht für tot erklärt. Alle diese Säuglinge wachsen in Russland dann bis heute in einem weitgehend von der Öffentlichkeit abgeschirmten System auf, in dem eigene Gesetze, Rechtlosigkeit, Zwang und menschenunwürdige Umstände herrschen. Häufig arbeiten hier ungelernte Kräfte, die allenfalls eine Verwahrung, aber keine Förderung dieser Menschen gewährleisten. Dazu kommt die Korruption, die das Gesundheitssystem in Russland kennzeichnet. Dieses System ist in den letzten Jahren zunehmend in die Kritik geraten. NGOs und Freiwillige, die schon lange in den Heimen arbeiten und beharrlich versuchen, die Lebensbedingungen und Perspektiven der BewohnerInnen zu verbessern, haben ihren großen Anteil dazu beigetragen. Dazu kamen zwei Ereignisse, die diese Diskussion beschleunigt haben: ein anti-amerikanisches Gesetz, das US- Amerikanern die Adoption russischer Kinder verbot, die zumeist aus russischen Heimen kamen. Und die Ratifizierung der UN- Behindertenrechtskonvention durch Russland im Jahr 2012.
Aktuell leben etwa eine halbe Million Menschen mit Behinderungen noch in weitgehend geschlossenen, im Wortsinne totalen Institutionen. Vom ersten Lebensjahr bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr leben Kinder wie Gregory oder Pjotr in einem sogenannten DDI, einem „Institut“ für Säuglinge und Kinder mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen mit oft über fünfhundert Kindern. Sind diese Kinder achtzehn Jahre alt geworden, werden sie in ein Psycho- Neurologisches Internat (PNI) für Erwachsene verlegt, in denen in der Regel über tausend Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen leben. Ein selbstbestimmtes Leben ist für viel zu viele Menschen mit Behinderungen immer noch nicht vorgesehen.
Auch wenn mit der Ratifizierung der UN-Konvention viele neue rechtliche Grundlagen geschaffen wurden, die die Situation in den Heimen verändern helfen sollen, ist viel zu vieles beim Alten geblieben. Die NGO „Neue Perspektiven“ versucht das zu ändern. Sie kontrolliert Rechtsverstöße, erfasst sie und bietet zusätzliche Angebote in den Großeinrichtungen an: Sport, Krankengymnastik, eine Kunstwerkstatt und Betreuung bei der Freizeitgestaltung. Die Haupt- und Ehrenamtlichen von „Novye Perspektivy“ haben kleinere Wohneinheiten entwickelt, die eine größtmögliche Selbständigkeit der BewohnerInnen ermöglichen sollen.
Heute habe ich die erste Verselbständigungswohngruppe für junge Menschen mit Beeinträchtigungen in Russland besucht, ein Projekt von „Novye Perspektivy“. Eine junge Frau und drei junge Männer leben dort, in der achten Etage eines Hochhauses in einem Außenbezirk von Petersburg für vier Monate. Dann entscheidet sich vor einer staatlichen Kommission ihre weitere Zukunft. Denn diese Kommission entscheidet darüber, ob Gregory und Pjotr zukünftig mit einer kleinen staatlichen Unterstützung in einer eigenen Wohnung leben können. Das können sich die meisten VertreterInnen des russischen Sozialwesens immer noch nicht vorstellen.
In der Verselbständigungswohngruppe werden Gregory und Pjotr vier Monate lang auf diese lebensentscheidende Prüfung vorbereitet. Sozialpädagoginnen, Heilpädagogen und Therapeuten unterstützen sie zum Beispiel dabei, den Umgang mit eigenem Geld, die selbständige Fahrt zur Arbeit und das Kochen zu erlernen. Vier Monate, mehr Zeit bekommen sie nicht.
Ich habe heute zwei selbstbewusste und selbständige junge Männer kennengelernt, die jetzt völlig neue Perspektiven für sich sehen. Weil sie zuverlässige und fachlich visionäre Verbündete für Ihre Wünsche gefunden haben, deren großartiges Engagement von „Brot für die Welt“ seit Ende der Neunziger Jahre gefördert wird.