„Nachtasyl“ heißt das bekannteste und erfolgreichste Theaterstück des russischen Schriftstellers Maxim Gorki. Ort der Handlung dieses Dramas ist ein Elendsquartier im Russland der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Es ist zu gleich Gorkis düsterstes und ein schwer verdauliches Drama.
„Nochlezhka“ – zu deutsch „Nachtasyl“ ist auch der Name einer russischen wohltätigen Organisation, die sich seit 1990 für die Rechte und die Verbesserung der Lebensbedingungen von wohnungslosen Menschen in der Russischen Föderation einsetzt.
Die Gründe für Wohnungslosigkeit in Russland sind vielfältig, circa 20 Prozent werden durch kriminelle Machenschaften zu Obdachlosen. Besonders alte und kranke Menschen werden durch ein Netzwerk von Banden und korrupten Beamten aus ihren eigenen Wohnungen vertrieben. Nach einem Krankenhausaufenthalt oder einer kurzen Abwesenheit finden sie in ihren Wohnungen andere Menschen vor, die Androhung von Gewalt treibt sie auf die Straße. Das heißt in Russland meistens: in die Rechtlosigkeit. Denn wer keinen festen Wohnsitz, erst recht wer keine Registrierung, die „Propiska“ nachweisen kann, besitzt keinen Anspruch auf öffentliche Unterstützung. Zwar wurde im Jahr 2011 ein föderales Gesetz verabschiedet, das diesen Menschen den Zugang zu einer Krankenversicherung ermöglicht, wenn sie in einer staatlichen oder nicht-staatlichen Einrichtung gemeldet sind. Aber in der Realität halten sich viele Beamte nicht an diese Vorschriften, die darum vielerorts graue Theorie bleiben.
Allein in Petersburg leben nach Einschätzung der Fachleute circa 60.000 Menschen auf der Straße. Bei unserem Besuch Ende Oktober fällt der erste Schnee. Mindestens 1.200 wohnungslose Menschen erfrieren jeden Winter allein auf den Straßen von Petersburg. Nach offiziellen Angaben leben etwa 1,5 Millionen Menschen in Russland ohne festen Wohnsitz, nach Schätzungen der NGOs sind es allerdings bis zu 4,2 Millionen Menschen – rund drei Prozent der Bevölkerung!
Die Mitglieder von „Nochlezhka“ beraten Wohnungslose in Petersburg bei der Wahrnehmung ihrer seit 2011 bestehenden Rechte, ermöglichen die Registrierung, vermitteln Arbeitsplätze, aber auch Kleiderspenden und eine warme Mahlzeit. Wir haben ihr Haus besucht, in dem etwa sechzig Menschen für wenige Wochen zur Überbrückung wohnen können, bis ihnen im besten Fall wieder eine Arbeit oder ein Dach über dem Kopf vermittelt werden kann. Im Erdgeschoss leisten acht SozialarbeiterInnen auf engstem Raum in winzigen Kabinen engagierte und fachkundige Einzelfallhilfe sowie Rechtsberatung. Auf dem Hof des Nachtasyls steht neben einem Unterstand mit Wärmelampen in einem Container die einzige Duschvorrichtung: drei Duschen für die 60. 000 obdachlosen Menschen in ganz Petersburg.
Gregory, dem Leiter der Einrichtung, und sein engagiertes Team sind sich völlig klar darüber, dass sie mit ihrer Hilfe nur einen Tropfen auf den berühmten heißen, im russischen Winter jedoch eiskalten Stein sein können. Sie wollen mit ihrer Arbeit beispielhaft aufzeigen, was geht. Ein genauso wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit besteht in Öffentlichkeits- und „Advocacy“- Arbeit für die Rechte und Belange dieser Armee von wohnungslosen Menschen, die noch heute so leben, wie Maxim Gorki es vor einhundertdreißig Jahren eindrucksvoll angeklagt hat.
„Nochlezhka“ betreibt mehrere Mitternachtsbusse, die jede Nacht – unterstützt von 60 Freiwilligen – zu den entlegenen Plätzen dieser Viermillionenstadt fahren. Wir fahren einen Abend mit und sehen die unterschiedlichsten Frauen und Männer, die an der Autobahnbrücke plötzlich aus dem Dunkel der Nacht aus allen Richtungen auftauchen und sich diszipliniert vor der Ausgabe aufstellen. Die Frauen bekommen zuerst einen Teller heiße Suppe. Es schneit und ein eiskalter Wind lässt die gefühlte Temperatur auf minus acht bis zehn Grad sinken. Obwohl ich aus dem Warmen komme und warm und trocken angezogen bin, beginne ich nach wenigen Minuten zu frieren. Auf mich wartet nach diesem langen und beeindruckenden Abend ein warmes Hotelzimmer, auf diese fünfzig Männer und Frauen eine eiskalte Nacht. Und der lange Winter in Russland hat eben erst begonnen.
„Nochlezhka“ und sein hervorragendes Team werden von „Brot für die Welt“ gefördert, mit Ihrer Spende können auch Sie mithelfen, dass sich mehr Licht und Wärme in der Düsternis der kalten Nächte in Petersburg ausbreiten.