Sackgasse Griechenland. „Stuck in Greece“ heißt der Blog, den Fawaz al Fawaz, derzeit Thessaloniki, auf Facebook führt. Kein nachrichtlicher Blog, eher ein poetisches Gefühlsecho auf die verzweifelte Lage, in der sich derzeit so viele Menschen in Europa befinden. Sein Blog hat ein Bild des kürzlich geschlossenen Flüchtlingslagers „Camp Petra“ in mein Blickfeld geschoben.
Die Kälte kriecht einem noch am sicheren Schreibtisch in die Knochen. Wer in geheizten Konferenzräumen oder Plenarsälen über Flüchtlingspolitik zu entscheiden hat, sollte es sich zur Gewohnheit machen, solche Bilder anzusehen; könnte vielleicht auch den Gedanken oder sogar das Gefühl zulassen, wie es wohl wäre, wenn der eigene Enkel, die Tochter oder Mutter in einem solchen Lager auf ihre Zukunft warten müsste. WARTEN. Ob das Entscheidungen beeinflussen würde? Im Advent im christlichen Abendland?
Morgen tritt der Europäische Rat in Brüssel zusammen. In einer schwierigen politischen Situation werden die 28 RegierungsvertreterInnen über die Reformvorschläge der EU-Kommission zum Dublinsystem sprechen, das die Zuständigkeit der EU-Mitgliedstaaten für die Durchführung des Asylverfahrens regelt. Dublin IV heißt das im Politjargon und ist Teil einer kompletten Überarbeitung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Wenn Dublin IV, so wie die Kommission vorschlägt, verabschiedet wird, wird die Verantwortung für den Flüchtlingsschutz aus der Europäischen Union ausgelagert. So sehen wir in der Diakonie den Besorgnis erregenden Stand der Dinge. Und nicht nur wir: Pro Asyl, Amnesty International, der Paritätische Gesamtverband, die Arbeiterwohlfahrt, die Neue Richtervereinigung, die Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht des Deutschen Anwaltsvereins, der Jesuitenflüchtlingsdienst und der Republikanische Anwaltsverein teilen diese Ansicht.
Zur Erinnerung: Im vergangenen Jahr konnte man nicht mehr ignorieren, dass die Dublin-Regelung, nach der der jeweilige Einreisestaat zuständig für das Asylverfahren ist, nicht nur nicht praktikabel, sondern auch schreiend ungerecht ist, wenn damit nicht eine verbindliche und gerechte Verteilung der Geflüchteten verbunden ist, die nie funktioniert hat und die voraussichtlich nie funktionieren wird. Die EU-Staaten an den Außengrenzen – ausgerechnet Länder wie Griechenland, Bulgarien, Italien aber auch Spanien – waren jahrelang übervorteilt und mit der Not der ankommenden Flüchtlinge alleine gelassen worden. Was folgte, ist Geschichte. Es kam in den Monaten nach dem September 2015 bekanntermaßen zur Grenzöffnungen und -schließungen, zu beschämenden diplomatischen Verrenkungen bei dem Versuch nicht zuständig zu sein. Auch ein Wort wie „Flüchtlingsdeal“, an das wir uns alle gewöhnt haben, ist ein Unding. Wem innereuropäische Solidarität oder die Menschenrechte mehr als nur Rhetorik sind, konnte und kann schier verzweifeln. Was bei dem Gerangel und Geschacher um Zuständigkeiten auf der Strecke bleibt, sind Recht und Mensch. Bis heute kann von einer gerechten Verteilung der Verantwortung für die Zuflucht- und Zukunftsuchenden innerhalb der Union nicht die Rede sein. Es ist beschämend.
Zurück zum Entwurf für Dublin IV. Die Gesetzeslage ist natürlich komplex. Ich greife hier nur einen Begriff heraus: das sogenannte „Selbsteintrittsrecht“. Daran kann man gut zeigen, was passiert, wenn die Regelungswut keinen Raum mehr lässt für das, was ich die empathische Grauzone des Humanitären nennen würde. Die verzweifelten Lebenslagen also, die sich bürokratisch nicht fassen und schon gar nicht bewältigen lassen. In denen sogar Staaten flexibel mit ihren Regeln sein müssen.
Das Selbsteintrittsrecht gibt den EU-Staaten bislang die Möglichkeit, aus humanitären, menschenrechtlichen oder geopolitischen Gründen Asylanträge von Flüchtlingen zu bearbeiten, für die sie nach den Zuständigkeitsregelungen von Dublin nicht zuständig gewesen wären. Sie können so auf Notlagen von einzelnen Menschen reagieren. So gewährte die Bundesrepublik im vergangenen Jahr besonders schutzbedürftigen Männern, Frauen und Kindern aus Syrien, die im September 2015 festsaßen, Zugang zu einem Asylverfahren in Deutschland.
Damit wir uns verstehen, dass Selbsteintrittsrecht ist kein Freifahrschein für ungehinderte Einreise, sondern ein Instrument mit dem wenigen Menschen und überschaubaren Gruppen in größter Not, in Verfolgungssituationen unbürokratisch geholfen werden kann. Das scheint die EU-Kommission verhindern zu wollen. Und das bestürzt mich.
Was steht dahinter? Ein Kotau vor dem Gespenst des Rechtspopulismus, der in Europa umgeht? Eine kurzsichtige Wagenburgmentalität? Das Eingeständnis, dass es in Europa nicht möglich ist, eine gerechte Verantwortungsteilung in der Asylpolitik durchzusetzen? Nichts davon sollte handlungsleitend sein. Die Debatte um das europäische Asylrecht bedarf jetzt dringend des Engagements der Weitsichtigen und Einflussreichen, das sich bei der Banken- und Eurorettung von selbst versteht: Es geht um unsere Europäische Verantwortung für die Idee der Menschenrechte, die aktuell so gravierend an Gewicht in der Welt verliert.