Friede auf Erden

Tote, Verletzte – mitten in Berlin. Im Schatten der Gedächtniskirche, die in ihrer zerrissenen Architektur jeden Tag die Erinnerung an die Bombennächte eines lang vergangenen Krieges in unser Blickfeld holt. Ich war selber in der vergangenen Woche auf diesem Markt am Breitscheidplatz. Eine freie und offene Gesellschaft bleibt gegenüber menschenverachtenden und hasserfüllten Menschen wehrlos. Das ist eine bittere Erfahrung. Aber genau diese Wehrlosigkeit ist auch ein Zeichen ihrer Würde. An Weihnachten erinnern sich Christen, aber auch viele Nichtchristen, an die alte biblische Erzählung, in der ein verletzliches Menschenkind im Zentrum steht. Dieses Kind – und der Erwachsene, der es einmal sein wird – verkörpert eine andere Art von  Macht, auf die es ankommt: „Friede auf Erden“, singen die Engel in der Weihnachtsgeschichte. Und weil das wahr bleibt, auch nach einem schrecklichen Anschlag, ändere ich an meinem Weihnachtsblog und seiner heiteren Tonlage kein weiteres Wort:

Der Hummer im Stall

In der Weihnachtskomödie „Tatsächlich Liebe“ von 2003, die auch in diesem Jahr wieder im Fernsehen zu sehen ist, gibt es eine kleine Szene, in der ein aufgeregtes Mädchen zuhause von ihrer Rolle im Krippenspiel der Schule erzählt: Sie sei der erste Hummer. Erstaunte Rückfrage der Mutter: „Es gab mehr als einen Hummer bei der Geburt Jesu?“ – Ich mag diesen Dialog, und wie er in wenigen Sätzen die Weihnachtsgeschichte neu erzählt. Am Ende des Films wird dann noch ein Junge im Oktopuskostüm auftauchen, der auch auf dem Weg zu diesem Krippenspiel ist.

Das ist nicht biblisch, ich weiß. Vieles von dem, was die Weihnachtsbildsprache unserer Kirche, unserer Kultur prägt, was unsere Art Weihnachten zu feiern ausmacht, ist nicht biblisch. Natürlich nicht. Sogar Ochs und Esel kamen erste später dazu. Oder Adventskranz, Weihnachtsbaum, Weihnachtsgans und „Jauchzet, Frohlocket“. Der Glaube, dass Gott Mensch wurde, hat Erstaunliches hervorgebracht. Das ist Kultur. Sie wandelt sich. Ihre Erfinder sind Männer und Frauen, die dichten, malen, schreiben, die komponieren, kochen, singen, gestalten, schmücken und noch viel mehr konnten und können. Menschen, die sich inspirieren ließen und lassen von den alten Worten der Bibel, von ihrem Glauben. Auch von der irdischen Verheißung, dass sich mit der Weihnachtssehnsucht viel Geld verdienen lässt.

Die Krippenfiguren vorne am Altar, die Weihnachtsmärkte, Weihnachtsmänner, der Weihnachtshit oder –film gehören zur unübersichtlichen Weihnachtswelt in Kirche und Gesellschaft: Glaube, Glitzer, Glühwein, Gebete und Geschenke. Es ist nicht immer klar, wo das eine anfängt und das andere endet. Manches bleibt mir fremd – in Kirche und Fußgängerzone. Ich halte es aber für falsch, das, was mir fremd ist, abzulehnen. Die Weihnachtswucherungen pauschal zu kritisieren, bringt nicht weiter. Im Gegenteil: Ich wünsche mir den Hummer in den Stall.

Mag sein, meine Weihnachtsvision sprengt den Stall: Rund um das Kind in der Krippe drängt sich eine Menschenmenge. Pelzmanteldamen und Penner, die Hirten und die mit einer anderen Religion, die Sterngucker aus dem Morgenland. Oktopus und Hummer, Ochs und Esel. Weihnachten zu feiern oder für manche auszuhalten, gehört in Deutschland dazu – selbst bei vielen Menschen, die mit der  Kirche nichts zu tun haben. Weihnachten könnte heißen: Keiner soll draußen bleiben, alle sind willkommen. Ob andächtig oder angeheitert, nachdenklich oder genervt. Weihnachten – als große Inklusion Gottes. Weihnachten als Fest in einer offenen, vielfältigen Gesellschaft.

Naiv? Mag sein. Aber immerhin habe ich die Weihnachtsgeschichte auf meiner Seite: Sie legt den Menschen ein Neugeborenes ans Herz – und mit ihm Furcht und Freude, Hoffnung und Sorge. Jedes Menschenkind hat eine unsichere Zukunft und braucht den Frieden auf Erden, von dem Lukas die Engel singen lässt. Darum dürfen wir uns alle an der Krippe treffen – Abendland und Morgenland, Kind und Kegel, Oktopus und Hummer. Es gibt nur eine Regel: Wir benehmen uns so, dass das Neugeborene schlafen kann.

Zuerst  erschienen in: zeitzeichen. Evangelische Kommentare in Religion und Gesellschaft, 12/2016