Für mehr Sicherheit – Familiennachzug

Ich bin ein „Volksverräter aus dem Logenmilieu“ – So hat mich jedenfalls Anna F., eine zornige Leserin der „Epoch Times“, genannt. Sie war sehr aufgebracht: Ich würde mich nicht für die Belange hiesiger Kinder und Bedürftiger interessieren, sondern mir „muslimische Klienten in Asien“ suchen.

Familien dürfen nicht auseinander gerissen werden ©Anieke Becker

Ziemlich krude und ziemlich falsch, ist die Diakonie doch Träger von bundesweit über 545 000 Plätzen in der Jugendhilfe und rund 9200 Tageseinrichtungen für Kinder.

Dahinein integriert sich unser Einsatz für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Die Diakonie ist für die Schwächsten in der Bevölkerung da – egal welche Sprache sie sprechen.

Anlass der Empörung von Frau F. war ein Artikel unter der Überschrift „Kirchen beklagen die Aussetzung des Familiennachzugs für minderjährige Flüchtlinge“. Ich werde darin zitiert: „Wer traumatisierte Kinder in einer Welt von ausschließlich jungen Männern aufwachsen lässt, schafft genau die Probleme, vor der sich die Gesellschaft verständlicherweise fürchtet. Das ist das organisierte Scheitern von Integration“.

Ich stehe zu dieser Aussage, und ich möchte sie auch vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um innere Sicherheit, dem Schutz vor Terror, heute noch einmal bekräftigen. Ich bin davon überzeugt: Den nachhaltigsten Schutz vor Radikalisierung und Gewalt bieten Integration und Teilhabe. Das gilt für alle Menschen, auch für die mit Deutsch als Muttersprache. Integration ist eigentlich nur ein Fremdwort für „Zukunft sehen“. Wer eine Zukunft für sich und die Seinen sieht, bringt keine Menschen um, hetzt nicht gegen andere, lässt sich nicht zum Attentäter oder Brandsatzwerfer machen. (Das sieht übrigens Jörg Radek von der Gewerkschaft der Polizei ganz ähnlich)

Gestern hat das Berliner Abgeordnetenhaus in einer Schweigeminute der Opfer des furchtbaren Anschlages in Berlin gedacht, in der kommenden Woche wird der Bundestag sich diesem Gedenken anschließen. Während einige Opfer des Anschlags noch um ihr Leben kämpfen, andere mit ihrer Fassungslosigkeit und Trauer fertig werden müssen, machen Bundesinnen- und justizministerium Vorschläge, wie mit sogenannten Gefährdern umzugehen sei. Terrorgefahr als Grund für Abschiebehaft, elektronische Fußfesseln, härtere Strafen sind im Gespräch. Die strengere Videoüberwachung des öffentlichen Raums, die Stärkung der Polizei, die bessere Zusammenarbeit der Behörden. Ja, es ist wichtig, dass schnell und sorgfältig geprüft wird, was jetzt zu tun ist. Doch  muss auch geprüft werden, ob die Möglichkeiten des bereits geltenden Rechts ausgeschöpft worden sind. Und ob das eine Grundübel aller Gewalt, keine Zukunft zu sehen, wirksam bekämpft wird.

Sicherheit ist wichtig. Eine Voraussetzung für Gerechtigkeit und Freiheit. Aber grundfalsch erscheint mir, Sicherheit ausschließlich als Sache der Justiz und der Strafverfolgung zu begreifen. Mindestens genauso wichtig ist es, dass wir in Deutschland Bedingungen schaffen, in denen es unwahrscheinlicher oder besser unnötig wird, dass sich entwurzelte junge Männer radikalisieren (lassen). Übrigens, unabhängig davon, wo sie geboren wurden.

Pubertierende Jungen und junge Männer, die eine Flucht hinter sich haben und die mindestens auf absehbare Zeit unter uns leben, vorsätzlich von ihren erziehungsberechtigten Bezugspersonen zu trennen, ist weniger als die zweitbeste Lösung: Es begünstigt das Fremdbleiben in einer fremden Gesellschaft und eröffnet Zugehörigkeit und Identität versprechenden Verführern und Hasspredigern neue Möglichkeiten. Deswegen ist der Familiennachzug bei den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen so wichtig. Zwei Jahre sind für jeden Jugendlichen eine Ewigkeit. Wer jungen Menschen die Hoffnung nimmt, dass sie mit den Menschen, die sie lieben, eine Zukunft aufbauen könnten, treibt sie in die Arme von Ersatzfamilien, seien es salafistische oder rechtsradikale Rattenfänger.

Kurz: Die Aussetzung des Familiennachzugs ist ein schwerwiegender Fehler, der Folgen haben wird. Wer innere Sicherheit und Demokratie will, muss Zukunft eröffnen. Auch für Anna F. und die Menschen, die sie liebt.