Heute gibt’s gleich zwei Themen in meinem Blog: Die Bürgerdiakonie und das Reformationsjubiläum. Passt nicht zusammen? Trotzdem beschäftigt mich beides. Also: „Bürgerdiakonie“ ist ein Begriff, den ich neuerdings gerne benutze. Leider habe ich ihn nicht erfunden, sondern mein Vorstandskollege in der Diakonie, Dr. Jörg Kruttschnitt.
Ich hatte ihm von meinen Eindrücken von der Diakonie-Studienreise nach New York Anfang Mai erzählt.
Es ging ja um Community Organizing und Gemeinwesen orientierte Sozialarbeit und wie sie als Methode diakonischen Handelns in der Großstadt funktionieren kann. Siebzehn spannende Projekte, auch in Kirchengemeinden, standen auf unserer Agenda. Sehr begeistert haben mich aber vor allem die aktiven amerikanischen Menschen, die Bürgerinnen und Bürger New Yorks – ihr „Spirit“, ihre Bereitschaft, einfach zu machen, neue Wege zu finden, wo noch keine Wege sind. Ich wünsche mir eine deutliche Portion mehr davon in unserem Land, Bereitschaft zur Mitverantwortung für das Gemeinwohl und den Zusammenhalt vor Ort. Und das kommentierte der Kollege dann und meinte: „Wir brauchen eine Bürgerdiakonie.“
Was für eine Dynamik könnte sich in unseren Städten und Dörfern entfalten, wenn mehr Menschen für das Wohl auch ihrer Nachbarschaft brennen würden. Wenn Staat, Wohlfahrt und Zivilgesellschaft im Nahbereich leidenschaftlicher miteinander kooperierten? Wie können Kirche und Diakonie sich im Netzwerk mit anderen Partnern wirkungsvoll in die Kiez- oder Dorfentwicklung einbringen? Bei der Flüchtlingshilfe haben wir in außerordentlicher Weise erlebt, was plötzlich möglich war. Eine Ausnahmesituation, sicher, aber trotzdem: Was könnte bewegt werden, wenn die einzelnen Bürgerinnen und Bürger, Kirchenmitglieder, wir alle, uns selbstverständlicher für die Notlagen der Menschen in unserer Stadt, im Kiez, unserer Nachbarschaft verantwortlich fühlen würden? Wahrscheinlich liegt es an New York, dass ich an die alte Aufforderung von John F. Kennedy denken muss: „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, frage, was du für dein Land tun kannst.“
Ich-Bezogenheit in der Gesellschaft
Natürlich geht es mir nicht darum, „den Staat“ aus seiner Pflicht zu entlassen. Natürlich ist unverzichtbar, dass an der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen in Notlagen mit öffentlichen Mitteln, strukturell und professionell gearbeitet wird. Der Sozialstaat, seine Gesetzgebung bildet die notwendige Basis. Aber selbst wenn das Sozialsystem noch besser finanziert wäre – ohne mehr Engagement aller werden wir die Herausforderungen in unserem älter und bunter werdenden Land nicht in Chancen verwandeln können.
Ich nehme in unserem Land eine Saturiertheit und stellenweise auch eine Ich-Bezogenheit wahr, die den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft inzwischen gefährlich unterwandert. Nicht nur bei den Bessergestellten. Wieviel von solcher Passivität, ja Gleichgültigkeit kann sich ein Gemeinwesen leisten? Was für Folgen hat es, wenn zu viele Bürgerinnen und Bürger denken und es für normal halten, dass ihnen die Notlagen in ihrer Nachbarschaft gleichgültig sein dürfen – denn mit dem Zahlen ihrer Steuern und der Sozialabgaben haben sie ja Ihren Beitrag bereits geleistet?!
Reformationsjubiläum als Irritation?
Solche Gedanken gehen mir auch noch durch den Kopf, wenn ich – so am Mittwoch geschehen – in der Lutherstadt-Wittenberg auf dem Kirchplatz vor der Stadtkirche St. Marien eine Sektflasche zertrümmere. Vor Zeugen. Wegen des Reformationsjubiläums:
Morgen beginnt die Weltausstellung. Reformation, nächste Woche ist Evangelischer Kirchentag in Berlin und Wittenberg mit großem Festwochenende. Der Anlass für den Sektflaschen-Event war das „Richtfest“ des Diakonie-„Türhaus der Gerechtigkeit“. Der begehbare, zweigeschossige Bau mit Aussichtsplattform, in den rund 60 Türen aus der Reformationskampagne Türen öffnen: Gerechtigkeit leben eingefügt wurden, wurde von einer Werft konstruiert. Deswegen schlug die Werft auch eine Art Schiffstaufe vor. Ein bisschen fremd muss das Bild für Passanten gewesen sein: ein Grüppchen Menschen, das Stahlskelett eines mehrgeschossigen Hauses, eine zerberstende Flasche. Irritierend. Mich hat die Idee auch erst irritiert. Und dann frage ich mich: Wie viele in unserer säkularisierten und multireligiösen Gesellschaft – in Wittenberg- nehmen das Reformationsjubiläum der Kirche wohl ausschließlich so wahr – fremd, als Irritation?
Unser „Türhaus der Gerechtigkeit“, das nun während der „Weltausstellung Reformation“ die Gäste aus aller Welt auf die Handlungs – und Engagementfelder der Diakonie verweisen wird, macht da vermutlich keine Ausnahme. Es ist wichtig, sich das immer wieder klar zu machen, finde ich. Was wir tun, denken und glauben, ist nicht selbsterklärend. Muss es auch nicht sein. Und unser Gerechtigkeitsthema, so hoffe ich, eignet sich gut für gegenwartsrelevante Gespräche – auch über Glaubensgrenzen hinweg. Auch zu Gesprächen über das notwendige Engagement und unsere Mitverantwortung für das Gemeinwohl.
Wer eine Preview will oder es nicht bis nach Wittenberg schafft: Man kann sich auf der Webseite unserer Kampagne “ Türen öffnen. Gerechtigkeit leben“ durch die Erklärtexte zu den Türen klicken. Und zum Beispiel nachlesen, was die Auszubildende aus dem Stephansstift Berufsbildungszentrum der diakonischen Betriebe Kästorf (Niedersachsen) über ihren Prozess der Türgestaltung erzählen. Über ihre Ratlosigkeit: Wie soll man Gerechtigkeit nur malen? Und über ihre überraschende Einsicht: Ungerechtigkeit ist viel anschaulicher, jedem fällt ein Beispiel ein. Und zum Schluss ihre erstaunliche Bildidee. Dass solche Gespräche unter Jugendlichen mit Lernbehinderung und psychischer Erkrankung geführt werden, weil die Kirche sich an 500 Jahre Reformation erinnert – das ist auch ein Grund zum Feiern!