Tag eins nach dem Kirchentag in Berlin und Wittenberg. In meiner Position heißt Kirchentag vor allem viele Gespräche vor Publikum, also Teilnahme an verschiedenen Podien, auf denen die vielfältigen Themen der Diakonie verhandelt werden: Beispielsweise zu Pflege, Integration und offener Gesellschaft, Zukunft des ländlichen Raumes oder Armutsbekämpfung. Spannend ein Streitgespräch mit dem Humanistischen Verband zum Thema Grenzen der Toleranz.
Dazu kommen Besuche von anderen Organisationen – etwa auf dem Markt der Möglichkeiten – und dann abends die diversen Empfänge, die politische Parteien aus Anlass des Kirchentages veranstalten. Sie ermöglichen unkompliziert Begegnungen mit Menschen, die an wichtigen politischen Entscheidungsprozessen in unserem Land beteiligt sind. Das ist eine Chance, die wir wahrnehmen.
Donnerstag konnte ich Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) zu einem Hintergrundgespräch treffen. Eine Stunde hatten wir Zeit, um darüber zu sprechen, wo und wie Diakonie und Kirche ein unverzichtbarer Partner für die ländlichen Kommunen sind, um die Herausforderungen des demographischen Wandels zu gestalten, in den Dörfern, in denen das Gasthaus und die Grundschule, Einzelhandel und Sparkasse schon lange geschlossen sind; wo die Wege zur Arbeit, zum Arzt, zur Physiotherapie oder auch ins Kino weit sind, und der Bus selten fährt. 60 Prozent der Deutschen leben auf dem Land. Es darf nicht passieren, dass sie sich „abgehängt“ und (sozial-) politisch nicht gesehen fühlen – das zu verhindern ist auch eine demokratiepolitische Aufgabe. Und da sind Diakonie und Kirche gefragt: Du siehst mich – lautete das Motto dieses Kirchentages.
Dorfladen und Diakonie im Gemeindehaus?
Auf dem Land, im Dorf muss und kann Kirche mehr sein, als ein gemeinschaftlich saniertes Denkmal auf dem Anger. Kirche (und Diakonie) können und sollten hier enger zusammenarbeiten u n d sich weiter in die oft säkularisierte Umgebung hinein öffnen, mit dem menschenfreundlichen Ziel die Lebensverhältnisse für Menschen in den strukturschwachen Regionen zu verbessern. Organisation von Zivilgesellschaft auf dem Land ist darum auch eine Aufgabe von Kirche und Diakonie. Wir verfügen doch noch über dieses unglaubliche „Filialnetz“, über engagierte Mitglieder oder oft ungenutzte Räume. Wenn wir uns für neue Partner öffnen, ungewöhnliche Allianzen in der Zivilgesellschaft nutzen, Bündnisse schmieden, Mitstreiterinnen und Mitstreiter suchen – dann können wir viel verändern. Gelungene Beispiele haben wir gemeinsam mit dem Deutschen Städte – und Gemeindebund in der vorletzten Woche in Bad Soden diskutiert.
Vor Ort, dort, wo die Menschen leben – in diese Richtung geht die Strategie der Diakonie, dafür setze ich mich ein. Dorfladen und Diakonieberatungsstelle im Gemeindehaus – warum eigentlich nicht?
Kommunen, Kirche, Bund
Das Ministergespräch war ein weiterer Knotenpunkt in diesem Vernetzungsprozess für den ländlichen Raum. Er gewann 2016 im Umfeld des Diakonie-Schwerpunkts „Wir sind Nachbarn. Alle“ an Fahrt. Zwei Tagungen widmeten sich dem Themenkreis „Kirche und Diakonie als Partner und Gestalter des Wandels im ländlichen Raum.“ Hier trafen Menschen aus Kirchenleitung und institutionalisierter Diakonie aufeinander, die noch viel zu wenig miteinander sprechen. Für Außenstehende mag das seltsam klingen – aber es ist so, der Kontakt zwischen verfasster Diakonie und Kirchengemeinde könnte oft besser sein. Auch hier schlummert eine Menge noch nicht erschlossenes Potenzial.
2017 ist Diakonie Deutschland außerdem eine Kooperation mit dem Deutschen Städte und Gemeindebund eingegangen mit dem Ziel, Deutschland gemeinsam altersgerecht umzubauen. Auf einer gemeinsamen Fachtagung in Bad Soden Mitte Mai redeten wir erstmals miteinander über dieses Thema. Mitdiskutiert hat – in Gestalt vom Vorsitzenden Franz Müntefering (SPD) – auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO). Wir entdecken uns derzeit als Handlungs-Partner – ein interessanter Prozess, in dem Diakonie und Kommunen als Gestalter für die Interessen der alten Menschen auf dem Land neu aufstellen. Bund und Länder müssen sich als Gewährleister der finanziellen Rahmenbedingungen ins Spiel bringen. Die Reform des Gesetzes zur Gemeinschaftsaufgabe hat auf Bundesebene eine Basis zur Verbesserung der Infrastruktur ländlicher Räume geschaffen.
Der Geist des Kirchentags
Minister Schmidt war übrigens dann auch beim Forum Diakonie auf dem Markt der Möglichkeiten zu Gast. Solche Begegnungen empfinde ich als Chance für unsere Arbeit, und ich freue mich jedes Mal, wenn Kirche, Christinnen und Christen, Orte und Anlässe wie den Kirchentag schaffen, wo solche Begegnungen zum gegenseitigen Nutzen mit guten neuen Impulsen stattfinden können. Nicht nur für Amtsträger wie mich, sondern einfach für alle, die sich interessieren.
Und noch etwas fasziniert mich am Kirchentag wieder und wieder: Wie hier Kirche erlebbar wird, als Gemeinschaft von Menschen mit unterschiedlichen Traditionen, Meinungen und Interessen, die sich – über alle Differenzen hinweg – dann wieder in Gebet, Gottesdienst, gemeinsamer Bibelauslegung und Gesang verbinden lassen. Hier erlebe ich spektakulär unspektakulär Heiligen Geist. Friedliches und sich bereicherndes Zusammenleben, Streiten und Feiern ist möglich – oft berührend und eindrücklich verbindend. Ich wünsche mir das säkulare Pendant in unserer Demokratie: Eine bunte, vielfältige, differenzierte, gesprächs- und streitbare Gesellschaft, die durch den Geist des Grundgesetzes verbunden bleibt. Streitend, miteinander in Auseinandersetzung das Zusammenleben der Unterschiedlichen fördernd, und bei einem Länderspiel mit Özil, Boateng und Müller auch gerne singend.