Eine nachtschwarze Tür, ein Spiegel in Augenhöhe über der Klinke. Wer diese Tür öffnet, sieht sich zunächst selber. Im Zentrum des Türblatts: das filigrane Bild einer altmodischen Waage. In der leichteren Schale: Glaube, Hoffnung, Liebe symbolisiert durch Kreuz, Anker, Herz. In der anderen lasten Münzen, Perlen und Schmuck, Symbole für Geld und Macht. Sie wiegen soviel mehr. Die Waagschalen sind aus dem Gleichgewicht geraten: Anschaulicher kann man die Ökonomisierung unseres Lebens kaum machen.
Und noch mehr gibt es zu entdecken: ein Pauluszitat rahmt diese Collage, ein blindes Oval kontrastiert den Spiegel. Hier gibt es so gut wie nichts zu erkennen. Ich stehe vor einer Klassenzimmertür in der Gesundheits- und Krankenpflegeschule auf dem großen grünen Campus des Landesvereins für Innere Mission in Rickling und staune. Ein Schulbesuch der besonderen Art. Und auf meiner persönlichen Hitliste ganz klar der schönste Termin der vergangenen Woche!
Klassentüren der Gerechtigkeit
Die Gesundheits- und Krankenpflegeschule gehört zum Landesverein Innere Mission Schleswig-Holstein, also zur großen Familie der Diakonie. Der Grund meines Besuchs war, salopp gesagt, das Reformationsjubiläum. Denn dass die Pflegeschülerinnen und -schüler sich einen ganzen und intensiv vorbereiteten Projekttag lang mit dem Thema ‚Gerechtigkeit’ beschäftigt haben und dabei ihre Klassenzimmertüren in „Türen der Gerechtigkeit“ verwandelten, das ist ein beeindruckender Beitrag zur Diakoniekampagne zum Reformationsjubiläum „Türen öffnen – Gerechtigkeit leben“. Mir gefällt das sehr – denn das sind die Facetten des vergegenwärtigenden Erinnerns, die ich für entscheidend halte.
Dieser Projekttag, so erzählen mir die Schülerinnen und Schüler, und genauso die Lehrenden, war ein echter Höhepunkt in ihrem Schulalltag: Mit langen Gesprächen über die verschiedenen Aspekte und Verständnisse von Gerechtigkeit, über Ungerechtigkeit und was dagegen zu tun sei, über Gerechtigkeit aus Glauben. Mit der gemeinsamen Suche nach den richtigen Bildern für das Gedachte. Und nicht zuletzt mit dem gemeinsamen Gestalten.
Eine neue Selbsterfahrung, reformationsindiziert und gegenwartsorientiert. Immer wieder seien sie auf ihr eigenes Leben und Handeln zu sprechen gekommen: „Um Gerechtigkeit müssen wir uns jeden Tag selbst neu bemühen. Jeder Mensch kann entscheiden, ob er zu mehr Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit beitragen möchte“, erklärt mir eine Schülerin bei der Präsentation der Türen. Gerechtigkeit brauche Vorbilder, und zwar große und kleine: farbenfrohe Superhelden der Gerechtigkeit – von Batman bis Wonderwoman zeigt eine weitere Klassenzimmertür.
Auf der nächsten Tür wächst ein Baum aus einer Weltkugel heraus, und nur die Hälfte trägt die Früchte der Gerechtigkeit. Nebenan lädt ein Rezept zur Realisierung von Gerechtigkeit zum „Nachbacken“ ein: eine süße, mehrstöckige Torte der Gerechtigkeit („Man nehme eine gute Prise Toleranz.“) lacht mich an, Hände greifen ineinander: Gerechtigkeit braucht Gleichheit, Ge(h)rechtigkeit sei ein Weg. „Lasst uns den Weg der Gerechtigkeit gehen, dein Reich komme, Herr…“
Sechs umgestaltete Klassenzimmertüren – jede einzigartig, besonders, jede lädt zum Weiterdenken und -hoffen ein – prägen den Schulflur und jeden Tag gehen viele Menschen durch diese Türen. Was das bewirkt? Auch davon erzählen die Auszubildenden offen und authentisch. „Ich möchte in meinem privaten Umfeld und auf der Psychiatrischen Station versuchen, den Menschen, die mir begegnen, gerecht zu werden.“
Das hat auch die Jury für das Wittenberger Türhaus zur Gerechtigkeit überzeugt. Kopien aller sechs Türen sind noch bis zum 10. September in Wittenberg zu bestaunen. (Wer die Reise nicht schafft, wird unter https://www.diakonie2017.de/ fündig. Es macht sehr viel Freude, sich durch die geballte Kreativität zu scrollen. Und man kann übrigens immer noch Türen einreichen…)
Krankenpflege und Zukunftshoffnung
Der Besuch in Rickling war tatsächlich mein schönster Termin in dieser Woche. Er wirkt noch nach. Diese Gespräche mit den Schülerinnen und Schülern der Gesundheits- und Krankenpflegeschule haben mich begeistert und berührt. Was für tolle, engagierte, nachdenkliche junge Leute! Was für ein Schatz für unsere Gesellschaft, für die Diakonie! Wie großartig, dass sie ihre Begabungen, ihre Kreativität, ihre Nachdenklichkeit in unsere Arbeit einbringen wollen. Sie lassen mich hoffnungsvoll in die Zukunft schauen.
„Wir sind der Ansicht, Gerechtigkeit fängt bei uns selber an“, sagen die beiden angehenden Pflegefachkräfte vor der Tür mit dem Spiegel. Das Schwarz auf der Tür stehe für die durch und durch ungerechte Welt. Geld und Macht wögen oft schwerer als Glaube, Hoffnung und Liebe. „Mit unserer Tür möchten wir symbolisieren, dass wir Ungerechtigkeit sichtbar machen, indem wir uns selbst einen Spiegel vorhalten. Ein klarer Blick ermöglicht, dass wir handeln.“