„Die hören uns nicht zu.“ Dieser enttäuschte Satz über die Eliten in unserem Land spiegelt eine Erfahrung, in der sich viele Menschen wiederzufinden scheinen. Die, die nicht zuhören, das sind dann auch Menschen wie ich. „Business-Uniformierte“ in Anzug und Krawatte werden von den einen als zu gut verdienende Vertreter eines abgehobenen Establishments wahrgenommen – weit weg von den alltäglichen Sorgen im wirklichen Leben in Völklingen, Eisenhüttenstadt oder Nürnberg.
Treffen mich solche Vorwürfe? Nein. Dafür sind sie schlicht zu pauschal, fast populistisch. Doch das ist nur die halbe Wahrheit: Sie treffen trotzdem.
Denn wir in der Diakonie arbeiten hart für die Interessen der Menschen in Notlagen, und lassen uns dabei von einem Menschenbild leiten, in dem es um mehr geht als das äußere Erscheinungsbild. Diakonie findet in der beratenden und sorgenden Arbeit und im Dialog, auf Augenhöhe mit den Menschen statt u n d im Gespräch mit Ministerien. Natürlich bin ich davon überzeugt, dass unser Engagement im Interesse derer geschieht, denen oft nicht zugehört wird. Und entsprechend fuchst es mich, wenn Kritik verallgemeinert und sich in Äußerlichkeiten erschöpft. „Wie der schon aussieht“ – ist kein Argument, finde ich. Oder doch?
In der vergangenen Woche war ich beim Auftakt des 12. Treffens der Menschen mit Armutserfahrung zu Gast. Ohne Funktion, einfach mit (zu wenig) Zeit zum Reden und Zuhören. Dieses Treffen wird von der Nationalen Armutskonferenz (NAK) organisiert. Ein Ziel lautet: den politischen Austausch verbessern und Betroffene stärker beteiligen.
Soziale Verstehenskluft
Auch hier tauchte der Satz „Die (da oben) hören uns nicht zu“ wieder auf, obwohl auf einer Konferenz wie dieser, politische Verantwortungsträger und Bürgerinnen und Bürger ins Gespräch kommen können und sollen. Man sitzt im selben Stuhlkreis, ist im Normalfall freundlich – aber eine Fremdheit bleibt. Es gibt diese Verstehenskluft, die sich oberflächlich gesehen eben auch an sozialen Codes wie Kleidung, Sprache und Auftreten festmacht. Das nicht wahrzunehmen oder weg zu argumentieren, wäre unlauter. Genauso falsch wäre es aber, diese Kluft als unüberbrückbar zu akzeptieren. Oder gar zu beschwören. Es liegt im Grunde auf der Hand und war bei dem NAK-Treffen auch erfahrbar: Moderatoren spielen in diesen Runden eine zentrale Rolle. Sie sind unersetzbar: wie gut ein Gespräch gelingt oder nicht, hat viel mit der Qualität der wechselseitigen „Übersetzungsarbeit“ zu tun.
Ergänzt wird die Beobachtung durch Nebenbeigespräche: Eine Frau äußert beim Mittagessen, dass sie oft das Gefühl hätte, sie müsste erst eine Fremdsprache lernen, wenn sie mit Politikern sprechen wolle. Deswegen bleibe sie stumm. Ein Mann klagt selbstkritisch, dass von Armut Betroffene oft unvorbereitet in solche Gespräche gehen: „Wir müssen der Ministerin doch zeigen können, dass wir verstanden haben, worum es in der Gesetzgebung geht…“ Ein hoher Anspruch. Auch hier leistet die NAK Pionierarbeit, Menschen werden sprachfähig und kompetent sich in eigener Sache auch öffentlich einzubringen.
Die Rückseite von „Die hören uns nicht zu“ ist „Die da oben verstehen uns nicht.“ – Ein Satz der andersherum natürlich auch funktioniert. Wie oft gelingt es einer Sozialministerin oder einem Diakonie-Präsidenten sich gegenüber Betroffenen verständlich zu machen?
Sich verständlich zu machen bleibt ein anspruchsvolles und mühevolles Geschäft. Zuhören kostet Zeit, macht Arbeit und setzt mein Interesse am Gegenüber voraus – auch dann, wenn die Gesprächspartner dieselbe Muttersprache oder denselben sächsischen oder bayrischen Dialekt sprechen. Wir brauchen Übersetzer, die von einer Sprach- und Lebenswelt in die andere dolmetschen. Auch Parlamentarierinnen und Parlamentarier müssen das lernen. Ich sehe hier auch eine wichtige Aufgabe der Diakonie. Wir sind Brückenbauer. Wir können das. Unser weitverzweigter Verband, mit seinen vielfältigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nah bei den Menschen vor Ort und ihrem kaum zu überschätzenden Knowhow kann dazu beitragen, die verschiedenen Lebens- und Sprachwelten in unserem Land fruchtbarer ins Gespräch zu bringen.
Heute und morgen diskutiere ich wieder in einem anderen Kontext: Die 112 Delegierten der Konferenz Diakonie und Entwicklung in Nürnberg werden sich auch mit dem Thema Soziale Sicherheit beschäftigen. Für mich setzt diese Themensetzung die NAK-Gespräche der vergangenen Woche auf einer anderen Ebene fort: Armut und Soziale Sicherheit gehören in den Mittelpunkt der diakonischen Arbeit. Denn in all unseren Handlungsfelder haben wir mit Armut und ihren Folgen zu tun. In diesen Tagen erleben wir allzu deutlich, dass soziale und demokratische Teilhabe in einem engen Bezug stehen. Und was geschieht, wenn Menschen das Gefühl haben, ungehört und nicht beteiligt zu sein, haben wir gerade erst bei der Bundestagswahl gesehen. Es ist daher hohe Zeit, die unterschiedlichen Facetten des Themas Soziale Sicherung und Teilhabe in die öffentlichen Debatten nach der Bundestagswahl aufzunehmen. Das destruktive Mantra „Die hören uns nicht zu“ verlangt nach neuen Erfahrungen. Nach positiver Enttäuschung.