Auch in Polen wird in diesem Jahr das Jubiläum zur Reformation gefeiert. Die polnischen Protestanten sind zwar eine Minderheit in unserem mehrheitlich römisch-katholischen Nachbarland, aber heute beginnen in Warschau die zentralen Feierlichkeiten unter der Überschrift „Gott – Freiheit – Welt“.
Das Programm ist weitgefächert: eine wissenschaftliche Fachtagung, Konzerte, Ausstellungen, Workshops, ein Jugendprogramm, ein Empfang beim Botschafter der Bundesrepublik und natürlich Festgottesdienste. Ich werde Samstag dabei sein können und freue mich auf die Horizonterweiterung.
Mir gefällt die Weite, die aus dem polnischen Motto spricht: Reformation war und ist bis heute auch ein europäisches, internationales Projekt – mit Folgen bis in die Gegenwart. Zu diesen Folgen gehören etwa die grenzüberschreitenden Netze, die evangelische Kirchen über den Kontinent spannen, dazu gehören die Zusammenarbeit in der Eurodiaconia wie auch die kleinen und größeren Projekte im bilateralen Grenzverkehr. Stichwort: Krankhausversorgung im deutsch-polnischen Grenzgebiet. Welche Möglichkeiten gibt es für eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit – das interessiert uns in der Diakonie. Auch das sind ferne Folgen der Reformation – behaupte ich.
Am kommenden Dienstag, am Reformationstag, erreicht das Jubiläumsjahr 2017 seinen Höhepunkt. Was wird bleiben? Vielleicht ist das die falsche Frage. Es wurde erinnert, gefeiert und diskutiert. Und jetzt arbeiten wir weiter an dem großen Projekt, das vor 500 Jahren begonnen hat, als Martin Luther in Wittenberg eine Debatte vom Zaun brach, die sich seitdem vielfach gewandelt hat, aber nie abgebrochen ist. Das wird bleiben: Es geht immer wieder darum, Gottes-, Menschen- und Gesellschaftsbilder zu überprüfen und eingeübte Verhaltensweisen zu hinterfragen – im Licht des Evangeliums. Insofern kann und wird der 31. Oktober 1517 auch heute den Alltag der Menschen verändern. Die Gerechtigkeit Gottes hat viele Facetten und Nebenwirkungen:
Reformation: Inspiration für Gerechtigkeit
Vom Zwang befreit, die Gerechtigkeit vor Gott durch eigene religiöse Leistungen verdienen zu müssen, setzt im 16. Jahrhundert eine gesellschaftliche Bewegung ein, die nicht mehr gestoppt werden kann: Die Kirchgemeinden begreifen sich zunehmend als aus geschenkter Freiheit verantwortlich handelnde Gemeinschaften der Gläubigen und beginnen, sich als soziale Akteure wahrzunehmen. Da leuchtet der diakonische Geist: Drei Inspirationen, die Diakonie bis 2017 und darüber hinaus beschäftigen:
– Soziale Teilhabe und das soziale und kulturelle Existenzminimum für alle Menschen zu sichern, ist seit der Reformation erst recht diakonisches Anliegen. Luther formuliert im 16. Jahrhundert: „Es sollte niemand unter den Christen betteln gehen. Es wäre auch leicht, eine Ordnung darüber zu machen, dass eine jede Stadt ihre armen Leute versorgt…“ Das sollten wir bei unseren Diskussionen über Regelsätze, Wohnungsnot und ungleichwertige Lebensverhältnisse in den unterschiedlichen Regionen in Deutschland beherzigen!
– Bildungschancen für Kinder und Jugendliche einzuklagen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind, ist seitdem auch ein diakonisches Anliegen. Im 16. Jahrhundert löste das neue Glaubens- und Gemeindeverständnis einen nachhaltigen Bildungsschub in der Bevölkerung aus. Lesen lernen wird Christenpflicht. Was für eine Inspiration für die Sondierungsgespräche nach den Ergebnissen der Bertelsmannstudie über den Skandal der Kinderarmut in Deutschland!
– Menschen ohne Arbeit brauchen Unterstützung, die Existenz sichert und passgenaue Qualifizierung ermöglicht – auch das ist ein neues diakonisches Anliegen. Luther wertete Arbeit nicht als Fluch, von dem der Mensch erlöst werden sollte, sondern als Ansatzpunkt im Kampf gegen Armut. Sinnvolle Arbeit war für den Reformator selbstverständlich Gottesdienst: „Wenn ein jeder seinem Nächsten diente, dann wäre die ganze Welt voll Gottesdienst.“ Was bedeutet diese Einsicht für unsere Diskussion über „New Work“ im Zeitalter der Digitalisierung? Einen neuen Mix aus Erwerbs- und Familienarbeit, aus lebenslangem Lernen und zivilgesellschaftlichem Engagement?
Drei Beispiele, die Reformation in die Gegenwart einblenden und anschaulich machen, wie der menschenfreundliche Gott heute sozial erfahrbar werden kann, in öffentlicher Diakonie und solidarischer Gesellschaft. In Deutschland, in Polen oder anderswo. Auch das feiere ich am 31. Oktober. Und dann, mit Luther: Ecclesia semper reformanda, die Kirche muss immer reformiert werden. Oder, wie wir in der Diakonie gesagt haben: Türen öffnen, Gerechtigkeit leben. Die Arbeit geht weiter. Weil der menschenfreundliche Gott will, dass allen Menschen geholfen werde.