Der Pfarrer Johann-Friedrich Oberlin ist schuld, dass die Bundeskanzlerin in dieser Woche Gast der Diakonie in Potsdam war. Sie hat dort die diesjährige Oberlin-Rede gehalten: Thema Inklusion. Ohne den elsässischen Sozialreformer, der 1871 sein Haus für Kleinkinderbildung gründete, gäbe es heute kein Oberlinhaus mit 13 Tochtergesellschaften und rund 1.800 Beschäftigten, die für und mit etwa 30. 000 Kindern und Menschen mit Behinderungen arbeiten.
Der Name Oberlin steht für eine dieser diakonischen Geschichten, an deren Anfang einige wenige Menschen mit einer menschendienlichen Mischung aus einer guten Idee und Geistesgegenwart aktiv wurden. Menschen, die ganz bestimmt nicht mal davon träumten, dass ihre Initiative in fast 150 Jahren solche Ausmaße annehmen würde.
Angela Merkel hat sich in ihrer Rede klar für Inklusion ausgesprochen: „Wo immer es möglich ist, sollten Menschen mit und ohne Behinderungen zusammen sein.“ Und ergänzt: Sie sei „ein bisschen betrübt“ darüber, dass über die Frage inklusiver oder eigenständiger Förderung von Menschen mit Behinderungen zum Teil regelrechte Grabenkämpfe geführt würden. Im Mittelpunkt müssten die unterschiedlichen Bedürfnisse der Betroffenen stehen. Ein Nebeneinander von gemeinsamen inklusiven Einrichtungen für Behinderte und Nicht-Behinderte als auch Fördereinrichtungen ausschließlich für Menschen mit Handicap sei notwendig.
Ich bin froh über diese Worte der Kanzlerin, denn Inklusion braucht starke Fürsprecherinnen, kluge politische Verhandler auf allen Ebenen politischen Handelns und ausreichende Ressourcen. Nur dann werden den Worten auch weiter Taten folgen. Inklusion in allen Lebensbereichen zu ermöglichen, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention aufgibt, stößt einen tiefgreifenden Wandlungsprozess an, der nicht nur Strukturen und Gesetze, sondern auch das Menschenbild unserer Gesellschaft betrifft und unsere Idee von gelingendem Leben. So ein Prozess will aktiv in Bewegung gehalten werden, er läuft nicht von alleine. Zu groß sind immer noch Vorurteile und Bedenken. Aber wie will man sonst Erfahrungen machen? Wir müssen groß träumen, damit unsere Ur-Enkel in einem menschenfreundlicheren Land leben. Wegweisende Inklusions-Politik wird Kritik etwa an einer vorschnellen Umsetzung von Inklusion in der Schule ernst nehmen, sie auszuwerten und differenziert zu reagieren versuchen – ohne voreilig die Notbremse zu ziehen, wie es die CDU in Niedersachsen in den Koalitionsverhandlungen gerade vorschlägt.
Altonavi: Inklusion und Stadtplanung
Deutschland will ein Land sein, in dem alle Menschen in allen ihren Lebensphasen ihr Recht auf Teilhabe ausüben und erfahren können. Ein Land, in dem sich die Gesellschaft so organisiert, dass den unterschiedlichen Bedarfen und Bedürfnissen unterschiedlicher Menschen Rechnung getragen wird. Was möglich ist, wenn das wirklich ernst genommen wird, etwa im Quartiersmanagement oder in der Stadtplanung, habe ich kürzlich in Hamburg erleben dürfen: Inklusion als Leitmotiv von Lokalpolitik und Stadtplanung.
„Alles klar in Altona“ lautet der Slogan des Diakonie-Projekts Altonavi, mit dessen Hilfe der Kiez sich vernetzen kann. Wir haben uns auf unserem Abteilungsausflug die verblüffenden Wirkungen ansehen können. Auf den Weg gebracht wurde Altonavi durch die Evangelische Stiftung Alsterdorf mit ihrer preisgekrönten Initiative Q8 Quartiere bewegen: „Q8 sucht nach neuen Wegen, Menschen ein selbstbestimmtes und ausreichend versorgtes Leben zu ermöglichen und dauerhafte stationäre und zentralisierte Versorgungs- und Wohnstrukturen zu vermeiden. (…) Gleichzeitig soll das Projekt sozialen und diakonischen Akteurinnen und Institutionen Hinweise und Orientierung bieten, wie sie ihre Arbeit weiterentwickeln können“, liest man auf der Homepage. Es beherzigt konsequent, dass nachhaltige Sozial- und Gesellschaftspolitik im Quartier entschieden wird. Dass es klug ist, die verschiedenen Interessengruppen vor Ort mit der Lokalpolitik an einen Tisch zu bringen und gemeinsam neue Lösungen zu entwickeln. So dass bei der Stadtplanung – etwa im Neubaugebiet Mitte Altona – die Bedürfnisse von Menschen mit Einschränkungen, Alleinerziehende, Familien und Alten von vornherein mitgedacht werden. Auch dagegen gab es Widerstände. Inzwischen ist Mitte Altona das erste große Wohnungsbau-Quartier in Deutschland, in dem Inklusion vorbildlich geplant und umgesetzt wird: Wie kann so gebaut werden, dass die sehr verschiedenen Menschen, die hier einmal wohnen und arbeiten wollen, auch vorkommen können?
Ein anderes Beispiel: Wo sind Arbeitgeber, denen nicht klar ist, wie sie in ihrem „Regelbetrieb“ Arbeitsplätze für Menschen mit Handicap einrichten könnten? Altonavi funktioniert als Schnittstelle, die auch solche Kontakte herstellt – Diakonie als Brückenbauerin. In Altona zum Beispiel zwischen der gemeinnützigen alsterbarbeit, und dem dortigen „Innenstadt-Ikea“: Hier arbeiten in der sogenannten Fundgrube bereits seit 2014 rund 30 Menschen mit Handicap und mit großem Erfolg. Ins Möbelhaus sind sie voll integriert. Ein gelungenes Beispiel, wie Menschen, die früher ausschließlich in geschützten Werkstätten, separiert vom ersten Arbeitsmarkt, eine berufliche Chance gehabt hätten, in den „Mehrheitsalltag“ integriert werden. Inklusion statt Exklusion. Nur möglich geworden, weil es Menschen und Projekte wie Altonavi gibt, die das Thema – wie Oberlin vor fast einhundertfünfzig Jahren die Kleinkinderbildung – mit einer menschendienlichen Mischung aus guter Idee und Geistesgegenwart weiter beherzt vorantreiben; die beraten, vernetzen und begleiten – im Dienst einer Gesellschaft, die das Label gelungene Vielfalt wirklich verdient.