Qualitätsjournalismus und Nächstenliebe

Es gibt Situationen, in denen sich entscheidet, was für ein Mensch man sein möchte. So ähnlich formulieren es die freien Journalisten Stephan Beuting und Sven Preger zu Beginn ihrer investigativen Radio-Dokumentation „Der Anhalter“, einem Feature über einen Mann, der seit bald 40 Jahren auf deutschen Straßen unterwegs ist – und nie anzukommen scheint.

Zwei Männer, der recht Mann nimmt den anderen Mann mit einem Hörfunkgerät auf.
Stephan Beuting (rechts) mit dem Protagonisten Heinrich aus der Doku-Serie „der Anhalter“. ©Stephan Beuting/Sven Preger

Die beiden haben gerade in der Kategorie Hörfunk  den Deutschen Sozialpreis gewonnen, einen der wichtigsten Journalistenpreise hierzulande. Seit 1971 wird er, gestiftet von den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege, für herausragende Arbeiten in der Sozialberichterstattung verliehen. Ich durfte gestern den Preis überreichen. Aus der Begründung der Jury: „Neben der Brisanz, die das Thema ohnehin hat, erleben die Hörer, wie man sich tiefgründig und sanft, spannend und auch witzig der Biographie eines Menschen am Rande unserer Gesellschaft nähern kann.“

Die Geschichte der preisgekrönten Dokumentation beginnt am 8. September 2013. Damals wird Beuting an einer Tankstelle von einem Tramper angequatscht, einem alten Mann mit Baseballkappe, Gehstock und zu viel Gepäck. Er erzählt sprachgewaltig, etwas wirr vielleicht, aber durchaus überzeugend seine haarsträubende Geschichte: Kindheit und Jugend in der Psychatrie. Jahrzehnte der Gewalt, der Entmündigung. Als Erwachsener nie Fuß gefasst in der Gesellschaft. Seit 40 Jahren auf deutschen Straßen unterwegs, und jetzt auf seiner letzten Reise. Er habe Krebs und einen Termin in Zürich, zum Sterben. Ob Beuting ihn ein Stück mitnehmen könne?

Scherben einer Lebensgeschichte

So setzt die 5-Teilige Doku-Serie ein. Es gibt Situationen, in denen sich entscheidet, was für ein Mensch man sein möchte: Qualitätsjournalismus und Nächstenliebe können viel miteinander zutun haben. Was dann passiert, wie die beiden Autoren zueinander finden, warum sie sich Monate später auf die Suche nach dem alten Mann machen und gemeinsam mit ihm anderthalb Jahre über viele Widerstände hinweg seiner Biographie nachspüren, ist zum Glück immer noch nachhörbar. Etwa auf der Homepage und im WDR 5 Podcast „Tiefenblick.“ In 5 mal 30 Minuten setzen die Recherchen der beiden behutsam das Lebensmosaik des Anhalters  Heinrich Kurzrock, Jahrgang 1949, zusammen. Sie bergen die Scherben einer Lebensgeschichte, die sonst verloren gegangen wäre und die exemplarisch auch für das Schicksal von etwa 92 000 heute noch lebenden Psychiatrieopfern aus den Jahren 1945-1975 steht. Ob die Recherchen der beiden auch dazu beigetragen haben, dass im Januar 2017 endlich der Heimkinderfonds II aufgelegt wurde, lässt sich nicht sagen. Aber auszuschließen ist es nicht.

Solche journalistische Arbeiten halte ich für Sternstunden unserer freiheitlichen Gesellschaft: persönlich und politisch, hartnäckig und feinsinnig, kritisch und selbstkritisch. Sie helfen uns, unser Land und seine Menschen besser zu verstehen. Das ist unbezahlbar und müsste viel stärker honoriert werden – auch finanziell. Denn was freie Journalisten wie Stephan Beuting und Sven Preger investieren, damit solche Geschichten erzählt werden können, kann nicht hoch genug geschätzt werden. Auch dass der WDR noch Sendeplätze für Formate und Themen dieser Art hat, so aufwendige Feature-Produktionen ermöglicht und über Podcast und Mediathek einer größeren Öffentlichkeit zugänglich macht, ist von hohem Wert.

Ich wünsche mir mehr solcher Geschichten, die Menschen vom Rand der Gesellschaft ins Zentrum der Aufmerksamkeit holen – ohne sie bloßzustellen. Sorgfältig recherchiert, respekt- und humorvoll erzählt und fesselnd produziert. Wenn der Deutsche Sozialpreis, der ja auch in den Kategorien Print, Fernsehen und Online verliehen wird,  Journalistinnen und Journalisten darin unterstützen kann,  werden wir alle davon profitieren.