In diesem Jahr folgt meine Sommerreise dem Motto der Kampagne: Unerhört! Neben den „Vor-Ort“-Besuchen stehen sechs Unerhört-Foren in sechs Städten auf dem Programm. Organisiert und mitgeplant von unseren diakonischen Geschwistern vor Ort, die so dazu beitragen, die Strahlkraft der Diakonie-Kampagne zu erhöhen. (Herzlichen Dank! Zusammen können wir etwas bewirken!) In dieser Woche war ich deswegen in Stuttgart, Frankfurt am Main und Leipzig.
Unerhört-Foren, das sind ganz unterschiedliche Veranstaltungen, die eint, dass es darum geht Menschen in „unerhörten“ Lebenslagen zuzuhören. Nicht ü b e r Langzeitarbeitslose, wohnungslose Frauen, Arme oder Alte reden – sondern m i t ihnen. Und sie ins Gespräch zu bringen mit Männern und Frauen, die Sozialpolitik, Wohnungsbau und Arbeitsmarktpolitik mitgestalten. Das können wir in der Diakonie! Diakonie kann nicht nur Menschen in Notlagen kompetent unterstützen, sondern auch als Moderatorin, als Brückenbauerin wirken – jeweils im ganz konkreten Umfeld.
Wir können Orte und Anlässe schaffen, an denen Begegnung gelingt, die Impulse für ein gewandeltes Problembewusstsein und neues Handeln setzen. Das Unerhört!-Diskussionsforum im Altenpflegeheim, im Übergangswohnheim für wohnungslose Frauen, der Unerhört!-Gottesdienst im Sozialkaufhaus, gemeinsam mit Politikerinnen und Politikern aus der Region – auch das ist eben Diakonie. Auch so können wir dazu beitragen, konstruktive Partnerschaften in der Zivilgesellschaft zu knüpfen.
Diakonie baut Brücken
Das Zauberwort bei all diesen Unternehmungen heißt Zuhören – das hat sich für mich in der zurückliegenden Woche wieder gezeigt. Wir haben mit unserer Kampagne einen kommunikativen Nerv der Gegenwart getroffen: Wie mucksmäuschenstill es wird in einem Plenum, wenn wie im Sozialkaufhaus der Neuen Arbeit in Stuttgart Bad Cannstatt, der gelernte Gärtner Jan Frier (59) seinen Weg durch Jahre der unverschuldeten Arbeitslosigkeit schildert. Wie sich der Gesichtsausdruck eines jungen Frankfurter Kommunalpolitikers ändert, wenn er den Schilderungen der Sekretärin Binnur Sogukcesme lauscht, der nach einem beruflich bedingten Auslandsaufenthalt die Rückkehr in die Heimat nicht gelingt, und die plötzlich ohne Wohnung und Arbeit buchstäblich „auf der Straße steht“. Dreihundert Bewerbungen habe sie geschrieben, berichtet die 50-Jährige überzeugend und resolut. Nun blickt sie auch mit Stolz auf ihre Zeit bei Lilith, dem Übergangswohnheim für wohnungslose Frauen in Frankfurt, zurück. Unter vier Augen erzählt sie mir später: „Ich bin nicht arm. Arm ist, wer seine Würde verliert. Ich bin reich: reich an Erfahrungen.“
Zeit zum Reden
Wenn wir einander auf diese Art zuzuhören – offen und empathisch – wird es gelingen, den Gemeinsinn in unserem Land zu vertiefen und gemeinsam an den vielfältigen Problemlagen unserer Gesellschaft zu arbeiten. Jedes dieser Gesellschaftsprobleme hat ganz konkrete menschliche Gesichter, die in den aktuellen Empörungsdebatten zu oft hinter Vorurteilen und Sachzwängen verschwinden.
Die Lebensgeschichten der anderen zu würdigen, ist bereichernd, manchmal anstrengend. Aber voneinander und miteinander lernen zu wollen, ist eine Gelingensbedingung für jedes Miteinander – sei es in der Familie, am Arbeitsplatz oder in der Demokratie. Auch dazu will unsere Kampagne einladen: Es gibt in unserer immer vielfältiger, komplexer, älter und auch ungleicher werdenden Gesellschaft keine Alternative zum qualifizierten Zuhören. Jedenfalls, wenn uns ein Zusammenleben gelingen soll, dass die Teilhabe aller in den Blick nimmt.
Die letzte Station in dieser ersten Woche der Sommerreise war gestern Leipzig. Im Altenpflegeheim Johann Hinrich Wichern höre ich von vertrauten Problemen: Fachkräftemangel, Finanzierung der Pflege. Und ich lerne eine 100-jährige Dame kennen, Maria Stephan. Die gebürtige Kölnerin verlässt zwar ihr Bett kaum noch, aber sie ist voller Leben und Geschichten. Wie leicht werden hochaltrige Menschen wie Maria Stephan von denen, die die Pflege und das Land „organisieren“, vergessen. „Was fehlt Ihnen hier?“, habe ich sie gefragt. Ihre Antwort kam prompt: „Die Pflegenden hier sind super, die geben ihr Letztes, aber es fehlt ihnen die Zeit.“, sagte Frau Stephan gestern – und dann sagt sie, überhaupt nicht bestellt: „Wir haben hier zu wenig Zeit zum Reden und zum Zuhören.”
Unerhört! Diese Obdachlosen
Zwei Stunden später, nach einem lebhafte Forum mit Kommunalpolitikern und Publikum über die Aufgaben der Kommune im Blick auf alte Menschen, stehe ich dann in der Küche der ökumenische Kontaktstube für Wohnungslose Leipziger Oase und gebe Essen aus: Kartoffeln, Sauerkraut oder Zucchini, ein Würstchen und Obst zum Nachtisch – für 2 Euro. Die Schlange ist lang. Rund 60 bis 70 Menschen nutzen täglich dieses Angebot im Erdgeschoss eines sechsgeschossigen Plattenbaus mitten in der Stadt. Heute sitzen an den Biertischen auch Menschen, die sonst nie hier essen. Die Gespräche kommen nicht immer leicht in Gang. „Ich kenne sie ja nicht“, sagt ein beinamputierter Mann im Rollstuhl. Dann berichtet er doch von seinen Schwierigkeiten, eine behindertengerechte Wohnung zu finden. „Einer wie ich, hat keine Lobby“, glaubt er.
Großartige Menschen
Am Ende dieser Woche bin ich wieder einmal mehr stolz auf die vielen hochengagierten haupt – und ehrenamtlichen Menschen in der Diakonie. Was für ein Schatz für unser Land! Und ich bin dankbar für die vielen Gespräche und Begegnungen, für die fantastischen Projekte und die Menschen, die sie mit Kompetenz und großem Einsatz ermöglichen. Und nicht zuletzt habe ich die Männer und Frauen vor mir, die uns aus ihren Leben erzählt haben, die offen über Krisen und Scheitern, ihre Hoffnungen und Neubeginne erzählt haben. Unsere Gesellschaft braucht ihre Geschichten, ihre Kraft und ihren Stolz: Im Zimmer von Frau Sogukcesme bei Lilith in Frankfurt hängt eine Spruchkarte: „Das ist mein Motto“, hat sie gesagt und vorgelesen: „Am Ende ist alles gut. Und wenn nicht alles gut ist, dann ist das auch nicht das Ende.“ In drei Wochen wird sie in ihre eigene Wohnung umziehen.