Populismus – jetzt auch in Berlin?

Es steht schlecht um die politische Kultur in unserem Land und in Europa. Sie erinnert in diesen Tagen eher an schlechtes Fernsehen. Einigen Vertretern der deutschen Politik erscheint das Instrumentarium des Populismus, der medialen Inszenierung von Politik als schaler Politikersatz, offensichtlich als ein probates Mittel der Wählermobilisierung:

Gestört: Die politische Kultur in Europa.
© Hendrik Dacquin/Flickr

Etwa fünf bis zehn Geflüchtete am Tag, die bereits einen Asylantrag in einem Drittstaat gestellt haben und die bayrische Grenze passieren wollen, werden ernsthaft zum zentralen Sicherheitsproblem, ja, zur Schicksalsfrage des gesamten Landes erklärt. An die Stelle einer Folgen abschätzenden Politik in einer schwierigen europäischen Situation tritt eine ausschließlich Umfragen-geleitete Inszenierung von Politik. Auf der Strecke bleiben: eine verantwortete Balance zwischen humanitärer Asylpolitik und berechtigten Sicherheitsinteressen sowie die Ermutigung und Unterstützung der Verantwortungsbereiten.

Vielmehr gilt es dem vermeintlichen Volk aufs Maul zu schauen, um ihm dann nach dem Maul zu reden. Von der AfD lernen, heißt siegen lernen?! Also machen diese einzelnen Politiker fahrlässig und wissentlich Stimmung – gegen die Schwächsten. Als könnte das noch schnell die dringend benötigten Stimmen bringen. Dabei gehen die Zahlen der Geflüchteten, die noch nach Deutschland kommen, kontinuierlich zurück. Die Abschottungspolitik ist bereits erfolgreich.

Muckefuck-Politik mit Langzeitschäden

Selbstverständlich brauchen wir ein geordnetes Einreiseregime. Aber dem Wahlvolk fahrlässig zu suggerieren, es gäbe hier einfache Lösungen, gar eine wirksame Kontrolle an offenen Grenzen in Bayern, in Deutschland oder in Europa, das unterstellt schon ein Maß an Dummheit bei den Wählerinnen und Wählern, das man fast als Beleidigung empfinden kann. Oder soll die Freizügigkeit doch zurückgenommen werden?

Das Produzieren von Schlagzeilen als Politikersatz nennt man Populismus, den lauten Ruf nach viel zu einfachen Lösungen für komplexe Probleme. Frei nach dem Populisten-Motto: „Sehr gut, dass wir wieder Schlagzeilen produziert haben” folgen dem Getöse selbstverständlich keine substantiellen Lösungen. Entsprechend haben wir in der aktuellen Asyl- und Migrationsdebatte auch nichts Neues gelernt. Was ja nach den hochpolemischen, populistischen Dramen der vergangenen Wochen auch nicht zu erwarten war.

Nur einige bewusst gesetzte neue Kandidaten für Unwörter des Jahres mussten wir zur Kenntnis nehmen: „Asyltourismus” etwa. Oder die bewusst beschönigende Kunstwort-Neuschöpfung für rechtsstaatlich und konzeptionell hochproblematische Formen von Gewahrsam für Kinder, Frauen und Männer, die über keinen gesicherten Status als Geflüchtete verfügen: „Transfer- oder Ankerzentren“ heißen diese Wortungetüme. Dabei umschreiben sie nur eine neue Form des Wegschließens und werfen mehr Fragen als Antworten auf.

Schämen sich Beamte oder Politikberater, die sich diese Nebelwörter ausdenken, wenigstens noch heimlich, wenn sie in den Spiegel schauen? Die bewusst irrlichternde Schönfärberei dieser Kunstwortungetüme (Was assoziieren Sie bei dem Wort Ankerplatz?) ist verräterisch. Und die damit versprochenen Schnelllösungen wenden keineswegs Schaden vom „deutschen Volk“ ab. Im Gegenteil: Sie produzieren neuen Schaden.

Zuerst für die Schwächsten und dann genauso für die politische Kultur und das Zusammenleben in unserem ethnisch, kulturell und religiös immer vielfältiger und widersprüchlicher werdenden Deutschland. Langzeitschäden durch eine widersprüchliche und populistische Politik, die nur sehr schwierig wieder gut zu machen sind. Das ist bestenfalls Muckefuck-Politik, schlechter Politik-Ersatzkaffee. Aber keine verantwortungsethisch zu vertretende Politik mit langem Atem und durchdachter Strategie. Und mit christlichen Grundsätzen hat sie noch weniger zu tun.

„Versoapung“ der Politik

Thea Dorn hat in diesen Tagen in einem SZ-Interview von der „Versoapung der Politik” gesprochen. Wie schlechtes Fernsehen wird sie von einer Verrohung und Verunstaltung der Sprache (Was meint eigentlich das Wort „Asylwende“?) begleitet, die der Bundespräsident zu Recht gerügt hat.

Gleichzeitig wird über die zahlreichen tatsächlichen Herausforderungen in diesem Land viel zu wenig öffentlich gesprochen. Nach einer aktuellen von „Bild am Sonntag“ beauftragten Emnid-Umfrage sind nämlich die Verhinderung von Altersarmut und gleiche Bildungschancen für alle Kinder derzeit die wichtigsten politischen Themen der Deutschen. Auch eine bessere Kranken- und Pflegeversicherung und bezahlbarer Wohnraum zählen zu den Topthemen. Nur für die AfD-Wähler sind Kriminalitätsbekämpfung und Begrenzung der Zuwanderung (in dieser Reihenfolge!) besonders wichtig.

Wo ist also der Sechzig-Punkte-Masterplan für die dringend notwendige Sicherstellung einer humanen Pflege von immer mehr Hochaltrigen mit immer weniger Fachkräften? Oder für die dringend notwendige Reform der Pflegeversicherung, die für immer mehr Menschen zu einem Armutsrisiko wird? Wo ist die Strategie gegen die zum Himmel schreiende Bildungsungerechtigkeit in unserem Land? Gegen den dramatischen Wohnungsmangel in deutschen Großstädten, den ein dramatischer Wertverlust von Wohneigentum in den abgehängten Regionen Deutschlands begleitet? Sechzig Punkte gegen die sich immer schneller entwickelnde regionale Ungleichheit in Deutschland wären auch schön. Oder ein Masterplan gegen das immer schnellere Auseinanderdriften der kulturell, ethnisch und religiös pluralen Bevölkerung in Deutschland.

Das sind dringende Fragen, die politisch beantwortet werden müssen. Genauso wie die Frage, welches Land wir zukünftig sein wollen, in dem auch weiterhin kulturell, religiös und ethnisch verschiedene Menschen in Frieden miteinander leben können?

Für dumm verkauft

Statt diese Fragen politisch angemessen zu adressieren, werden in politischen Kurzsprüngen Kreuze in bayrischen Amtsstuben aufgehängt und ein Heimatministerium nach dem anderen geschaffen. So gewinnt demokratische Politik keinen einzigen Wähler, keine Wählerin zurück. Im Gegenteil. Ich habe in den letzten Monaten viele Voten von überzeugten Konservativen gehört, die sich weder in der „Versoapung“ noch in der vergifteten Sprache wiederfinden können.

Wann kehren endlich die Fakten zurück? Weltweit sind 68,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Männer, Frauen und Kinder. Aus den unterschiedlichsten Gründen: Kriege, Folgen des Klimawandels, Armut, Hunger. Ein Teil dieser Menschen sucht verständlicherweise auch in Europa Zuflucht und Zukunft. Damit umzugehen, ist nichts weniger als eine politische Jahrhundertherausforderung: schwierig. Komplex. Unbequem. Das sind Fakten. Und diese Fakten, diese Realität kann und muss man doch den Menschen in Deutschland und den Völkern Europas zumuten. Man muss sie erklären. Integrations- und Migrationspolitik sind bleibende Megathemen, an denen wir nicht vorbei kommen und die es zu gestalten gilt. Das kann man nicht einfach wegsperren. Wieso sagt das niemand der Regierenden in dieser Klarheit? Wie man Heimat, Identität und Zugehörigkeit buchstabiert in unserem Land, das immer vielfältiger wird, ist eine große politische Gestaltungsaufgabe. Diese Aufgabe dürfen wir nicht den ewig gestrigen Vereinfachern überlassen.

Ich fühle mich für dumm verkauft, wenn Politikerinnen und Politiker so tun, als ließen sich die zunehmende Diversität, die Globalisierung oder womöglich die Digitalisierung wieder rückgängig machen. Als könne man den Wandel der Welt durch bessere Zäune, höhere Mauern und zeitweise Internierung von Männern, Frauen und Kindern aufhalten oder gar zukunftsfähig gestalten. Transitzentren, das wurde doch schon vor drei Jahren erschöpfend diskutiert, werfen mehr rechtliche Fragen auf, als sie Lösungen bringen. Was können sie anderes sein als Internierungslager auf Zeit? Was nimmt in Kauf, wer das in Kauf nimmt?

Sommerferien, innehalten!

Ende dieser Woche fahren wir als Familie ganz altmodisch mit dem Auto nach Italien in die Ferien. Vor meinem inneren Auge entstehen Bilder von langen Schlangen vor Schlagbäumen. In der Bodenseeregion oder im Unterinntal – Touristen, Schwerverkehr. Schengen war einmal? Und von der fast 816 Kilometer langen grünen Grenze zu Österreich, über die eine „fiktionale Einwanderung“ (Sprache!) möglich ist, reden wir gar nicht erst. Transitzentren sollen helfen? Wer das glaubt, leidet unter Realitätsverlust. Und dann stellt sich ja auch noch eine Frage: Wo sollen die Internierten denn hin? „Zurückschicken“ ist ein Wort ohne Richtung.

Neulich gab es auf Spiegel Online die Hintergrundinformation zu lesen, dass diese „Versoapung” der letzten Wochen schlicht der Übermüdung der politischen Eliten nach dem kräftezehrenden Regierungsbildungsmarathon geschuldet sei. Ich möchte das hoffen. Und wünsche allen politisch Verantwortlichen und Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, erholsame und gesegnete Sommerwochen.

P.S. An alle, die denken, dass sie mit populistischen Lösungen auf dem Rücken der Schwächsten weiter Politik spielen könnten: Sie irren sich! Denn wir alle kommen (hoffentlich) gut erholt aus dem Urlaub zurück.