Ab heute ist es im Buchhandel: Das Buch, zu dem mich unsere Diakonie-Kampagne inspiriert hat: „Unerhört! Vom Verlieren und Wiederfinden des Zusammenhalts“. Ich freue mich auf die Diskussionen. Das Cover finde ich ja immer noch ein bisschen „schräg“, aber der Herder Verlag war sich sicher, dass es so im Buchhandel ein „Hingucker“ wird. Wir werden sehen.
Das erste Mal in der Hand hatte ich das fertige Buch am vergangenen Mittwoch. Genau an dem Tag also, als im Bundestag die Debatte um den Kanzlerinnenetat hohe Wellen schlug und wieder einmal zu einem Schlagabtausch über den erstarkenden Rechtspopulismus in Deutschland wurde. „Unerhört!“ erscheint „in time“: Chemnitz, Koethen und viele andere Orte in Deutschland, über die nicht geredet wird, sind Symptome für eine verunsicherte Gesellschaft, die aktuell um ihre Zukunft streitet, besser gesagt eine neue gemeinsame Zukunft sucht. Lautstärke Empörung auf allen Seiten. Verunsicherung. Klare Kante gegen mutwillige und populistische Vereinfacher. Auch dieser Sitzungstag war eine Variation zum Thema vom Verlieren des Zusammenhalts.
Empörung reicht nicht
Ich begrüße leidenschaftliche Debatten, Streit und andere Meinungen – Rassismus, Rechtsextremismus und Demokratiefeindlichkeit muss deutlich widersprochen werden, wo immer sie sich zeigen. Nicht nur im Bundestag. Auch Empörung kann angebracht sein. Aber sie reicht auf Dauer nicht aus. Sie hilft nicht weiter. Der Gestus der Empörung wird im Gegenteil zu einem Problem, wenn sie das fruchtbare Gespräch verhindert.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble brachte es auf den Punkt: Die rechte Gewalt bekämpfen, die Angst der Menschen aber ernstnehmen. Denn wenn die Abwehr der Gesinnung den Blick auf die Menschen verstellt, wird es gefährlich für ein Gemeinwesen. Wenn reflexhafte Abwehr das einzige bleibt, was einem einfällt zu Pegida und Co, zu Menschen, die anders aussehen oder denken, als man selbst. Ich gehöre zu denen, die als „Gewinner einer Asylindustrie“ beschimpft werden. Aber ich will das Gespräch mit diesen Kritikern nicht abbrechen – sofern sie bereit sind auch mir zuzuhören.
Ich glaube, dass wir alle viel genauer hinsehen lernen müssen. Viele von denen, die nicht mehr wählen gehen oder der AfD derzeit zustimmen, sind ja nicht einfach rechtsradikal. Auch die, die über die angebliche Bevorzugung von Geflüchteten murren, muss man ausreden lassen, ihnen besser zuhören, damit man an den Kern ihrer Abwehr kommt.
Die Gründe, warum Menschen von unserem politischen System enttäuscht sind, sind vielfältig. Vielen von ihnen ist gemeinsam, dass sie in ihrem Alltag, in ihrem Heimatort zu wenig erleben, dass unsere Demokratie auch ihr Leben lebenswerter macht. Das ist ernst zu nehmen und dem ist mit dem Verweis auf die hervorragenden Wirtschaftsdaten im Land allein nicht beizukommen. Erst recht nicht mit moralischen Appellen oder mit besserwissender und weltbürgerlicher Empörung.
An den Rand gedrängt
Bei ungezählten Begegnungen in den vergangenen Jahren ist mir immer deutlicher geworden, wie viele Menschen „den Faden verlieren“. Sie finden sich nicht mehr zurecht. Globalisierung, Digitalisierung, Migration, Klimawandel, soziale Ungleichheit: Die Probleme der Welt überwältigen viele und verbinden sich mit einem Gefühl, in der eigenen Lebenssituation nicht wahrgenommen zu werden. Nicht immer sind diese unerhörten Menschen auch in materiellen Notlagen, aber sie fühlen sich an den Rand gedrängt in einer Welt, in der das Tempo steigt und die Gerechtigkeit auf der Strecke zu bleiben droht.
Auch die wachsende kulturelle Vielfalt und zunehmende Pluralität der Lebensstile überfordern manche, die auf das Einwanderungsland Deutschland nicht vorbereitet sind. Auch politisch nicht vorbereitet wurden: Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP, an dem sich Merkels zweites Kabinett noch orientierte, enthielt ausdrücklich den Passus, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Das ist gerade fünf Jahre her, und der deutsche Innenminister spricht aktuell immer noch von der „Migration als Mutter aller Probleme“.
Noch einmal: Es geht mir nicht um Rechtfertigung von wenig zukunftsfähigen Haltungen, es geht ums Verstehen. Denn Verstehen-Wollen und genaues Hinsehen werden in unserer schnell getakteten Nachrichtenwelt und an Schlagzeilen interessierten Öffentlichkeit immer schwieriger. Auch darum geht es mir in meinem Buch:
„Wir leben in Zeiten von populistischen Krachmachern und medialen Krawallmachern. Gleichzeitig steigt die Zahl derer, die das Gefühl haben, mit ihren Anliegen und Geschichten kein Gehör zu finden. Deswegen geht es in diesem Buch um das Hören, genauer gesagt um das Zuhören. Denn die Kunst des Zuhörens droht in der ‚unerhörten Gesellschaft‘ auf den Hund zu kommen.“
Dabei hat jeder Mensch ein Recht darauf, gehört zu werden.
Zuhören ist mühsam
Das Buch versammelt Eindrücke aus Gesprächen mit Frauen und Männern, denen ich auf meinen Reisen quer durch Deutschland zuhören konnte: Arme, Alleinerziehende und Flüchtlinge, Rentnerinnen und Rentner, Schulleiter, Politikerinnen, Taxifahrer und Friseure, ehemalige Bergleute, Männer und Frauen in abgehängten Stadtteilen. Ich habe das Gehörte in Beziehung zu gesellschaftlichen Prozessen gesetzt, und trage Erfahrungen zusammen, die zu Perspektiven führen, die helfen können die drängenden gesellschaftlichen Probleme bearbeiten zu können.
Ich halte die Kunst des Zuhörens für den Schlüssel. Zuhören ist mühsam. Es fordert auch mich, meine Standpunkte zu überdenken. Doch erst wenn wir einander zuzuhören lernen und das konstruktive Streiten nicht scheuen, teilen wir wieder eine Wirklichkeit. In ihr können wir dann gemeinsam nach Lösungen suchen. Dafür brauchen wir Volksparteien, Wohlfahrtsverbände und Kirchen, die in die vernachlässigten Stadtviertel, Dörfer und Landstriche zurückkehren: an die Orte, in denen nicht nur die öffentlichen Briefkästen, sondern oft die gesamte soziale Infrastruktur verschwunden ist. Wir schaffen das nur gemeinsam. Unterstützt von Wirtschaft und Zivilgesellschaft und allen, die guten Willens sind.
Gemeinsam schaffen wir das
Darum habe ich dieses Buch allen bürgerschaftliche Engagierten gewidmet. Denn ohne sie wäre unsere Gesellschaft für sehr viel weniger Menschen eine Heimat. Und mit der Übernahme von Verantwortung beginnen Demokratie und Zivilgesellschaft zu leben, Meckern und Mosern reichen nicht.
Ich freue mich auf Ihre Rückmeldung und darüber, dass Sie dieses Buch lesen.