
Auch wenn mein Gesprächspartner mich am Sonntag versetzt hat: „Deutschland spricht“ ist eine großartige Aktion. Sie zeigt auch, dass die Diakonie mit den Unerhört-Foren, über die ich im Blog hier schon berichtet habe, auf dem richtigen Weg ist: Menschen in ein persönliches Gespräch zu bringen, die einander sonst nicht begegnen, wirkt wie eine Frischzellenkur für unser Gemeinwesen und unsere Demokratie. Orte des Zuhörens sind ein guter Anfang! Wir brauchen mehr davon.
Aber zurück zu „Deutschland spricht“: Auf Einladung von Zeit Online und elf sehr unterschiedlichen Partnermedien, unter ihnen beispielsweise Chrismon und die Deutsche Presse-Agentur, die Schwäbische Zeitung, Der Spiegel oder ARD-aktuell begegneten sich am vergangenen Sonntag in ganz Deutschland 4.235 Diskussionspaare. Also fast 8.500 einander unbekannte Menschen, die verbindet, dass sie in vielen Fragen nicht einer Meinung sind. Trotzdem – oder besser: deswegen – entschieden sie sich, miteinander über ihre gegensätzlichen Meinungen zu reden. Sie stritten konstruktiv über Politik, hörten einander zu und widersprachen einander leidenschaftlich. Lernten sich kennen und sehr häufig auch schätzen. Lohnende Erfahrungen – nachzulesen in einer Vielzahl von eindrucksvollen Berichten im Netz.
Zu viele verstummen
Mich hätte der „Deutschland spricht“-Algorithmus mit einem 28-jährigen Berufsschullehrer aus Berlin zusammenführen sollen, der unsere gegenwärtige Welt völlig anders zu interpretieren scheint als ich. Schade, dass wir uns nicht auseinandersetzen konnten. Ich frage mich, was ihn wohl gehindert hat? Er kann natürlich viele Gründe gehabt haben, aber mir fällt auf, dass ich das öfter erlebe: Menschen ziehen sich zurück aus den Kontroversen, bleiben lieber zuhause, auf der Zuschauerbank, schreiben vielleicht noch eine zornige Email, aber sie gehen nicht mehr ins Gespräch.
Auch die Kolleginnen unserer Online-Redaktion berichten derzeit, dass es schwierig ist, Interviewpartner für Porträts von besorgten Bürgerinnen und Bürgern zu finden, für die Website der Unerhört-Kampagne. Keine Parteipolitiker, sondern Menschen, die etwa Mühe haben mit der Flüchtlingspolitik, die aus Gründen, die wir in der Diakonie gerne verstehen würden, den Medien und dem politischen System nicht trauen, die sich fremd fühlen im eigenen Land: unerhört eben.
Immer wieder bekommen wir Absagen. Sogar, wenn Anonymität zugesichert wird. Manche fürchten beruflich Nachteile, andere glauben, dass sie öffentlich in die rechte Ecke gestellt würden. Die meisten erklären uns nicht, was sie hindert. Sie lehnen einfach ab zu reden. Es sei jedenfalls einfacher gewesen, sagen die Kolleginnen, Geschichten von Obdachlosen und Flüchtlingen oder Alltagsheldinnen zu sammeln, als von „besorgten Bürgern“. Warum ist das so? Und was bedeutet das für die Reichweite von so pfiffigen Formaten wie „Deutschland spricht“?
Wer kommt nicht vor?
Am Sonntag haben sich weniger Frauen und sehr viel mehr Männer getroffen. Personen, die Zeitungen lesen, die andere als „Mainstreammedien“ verunglimpfen. Bürgerinnen und Bürger, die einem Gespräch mit Andersdenkenden wohl grundsätzlich positiv gegenüber stehen. Das ist gut. Das ist ermutigend. Denn das belebt die schweigende Mitte der Gesellschaft. Und solche neuen Formate sind auch deshalb wichtig, weil sie die genau diese demokratische Mitte wieder sichtbar und erlebbar macht:
Eine aktuell meist schweigende Mehrheit, die in keine Richtung auffällt, aber deren Anteilnahme und Engagement doch unverzichtbar ist für die Vitalität unserer Demokratie. „Deutschland spricht“, hilft ihnen, sich wieder einzubringen und Demokratie mit anderen zu (er-)leben. Das ist dringend notwendig, damit wir uns nicht daran gewöhnen, dass unsägliche Debatten normal werden – und der konstruktive, sachliche Streit womöglich langweilig.
Trotzdem: Ich stelle mir die Frage: Wer kommt –wie der nichterschienene Berufsschullehrer – nicht vor in unseren Debatten ? Welche Personengruppen werden mit einem solchen Format gar nicht erst erreicht und bleiben bei diesen Begegnungen außen vor? Welche Positionen und Befindlichkeiten bleiben ungehört? Was ist mit den im Gespräch Ungeübten oder denen, die solchem „Gerede“ erstmal nichts abgewinnen können? Auch sie leben in unserem Land, auch sie haben Meinungen, äußern Befindlichkeiten, beeinflussen die Stimmung im Land. Was ist mit denen?
Unerhörte anstecken
Ich setze darauf, dass sich die positiven Gesprächserfahrungen der fast 8500 in tausenden alltäglichen, ungeplanten Begegnungen fortsetzen und verbreitern werden. Wie ein hochansteckender Virus. Wer von ihm befallen ist, bei der und bei dem verfliegt die Scheu vor der anderen Meinung auch beim Plausch im Hausflur, an der Bushaltestelle, nach dem Fußballtraining oder beim Rauchen vor der Kneipentür.
Zum anderen setze ich auch auf die Unerhört-Foren, die wir in der Diakonie seit dem Sommer erproben. Auch bei diesem Format ist die Idee, Menschen, die in anderen Diskursen oft keine Stimme haben, zu Wort kommen zu lassen und ins Gespräch zu bringen, etwa mit politisch oder kirchlich Verantwortlichen. Verbände der Diakonie, Einrichtungen, aber auch Kirchengemeinden können vor Ort Gastgeber werden für solche Gespräche – gerne im Rahmen der Unerhört!-Kampagne. Den Ungehörten zuhören, ins Gespräch gehen, Erfahrungen teilen. Und gemeinsam überlegen, was zu tun ist, um das Zusammenleben in der eigenen Nachbarschaft für alle lebenswerter zu gestalten.
Ich setze auch auf die Ideen und die Kreativität der Leserinnen und Leser dieses Blogs, auf die aufgeweckten Demokratinnen und konstruktiv Streitlustigen, die genug von der Zuschauerdemokratie haben.
Europa spricht
„Deutschland spricht“ findet übrigens international Nachahmer. Redaktionen in vierzehn Ländern planen aktuell ähnliche Aktionen und stehen mit den deutschen Initiatoren in Kontakt. Es besteht offensichtlich dringender Gesprächsbedarf. Und es ist allerhöchste Zeit, dass Demokratie wieder ansteckt. Nicht nur in Deutschland. Nächstes Jahr ist schließlich Europa-Wahl.
Sehr geehrter Herr Pfr. Lilie,
ich habe im Buchladen Ihr aktuelles Buch gesehen und mich neugierig ans Schmökern gemacht.
Die Einleitung zum Kapitel 1 bildet eine Mail eines Rentners, der nach vielen Jahrzehnten Arbeit 1200 Euro Rente bekommt, wovon die Miete 900 kostet, und der darum jobben gehen muss. Er irritiert sich daran, dass andere – ich scheue mich, in toto “Flüchtlinge” zu sagen – die neu ins Land strömen, ihm bei der Wohnungssuche gegenüber bevorzugt werden. Er fordert “Rentner first” und stellt die Frage nach der Gerechtigkeit.
Nun war ich gespannt, was Sie antworten würden. Sie sagten, sinngemäß: All diese Menschen sind Teil unserer Gesellschaft und wir müssen mit Ihnen in Frieden leben.
Ich fand Ihre Antwort sehr unbefriedigend. Glauben Sie, dass Sie dem Rentner das Richtige geantwortet haben mit diesem Satz und auch ihrem blassen Mitgefühl für seine Lage, die so nicht sein dürfte?
Ich wäre als derjenige, den Sie für Ihr Buch zitieren, nicht zufrieden.
Der Rentner stellt doch wichtige Fragen.
Wer oder was ist “Gesellschaft”? Ist sie grenzenlos, darf jeder der will, dazustoßen? Auch Menschen, die daran glauben, dass man diese Gesellschaft zerstören und sich untertan machen soll? Wem hat unsere Solidarität – christlich: Barmherzigkeit – zu gelten? Gibt es Grenzen? Wer ist “der Nächste”?
Der Rentner stellt indirekt auch die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche. Die Bibel kennt dazu Matthäus 22:21 und Römer 13, das Augsburger Bekenntnis von 1530 verdeutlicht, was der Staat von uns fordern darf. Die Voraussetzung aber ist doch, dass die Obrigkeit/der Kaiser Teil einer “guten Ordnung” ist. Die Menschen heutzutage erleben aber diese “gute Ordnung” nicht mehr. Und sie erleben auch nicht mehr, dass die Kirche ein Ort ist, der sich von der “Obrigkeit” abgrenzt.
Mein Eindruck: Sie machen es sich zu leicht. Sie hören nicht, welche Fragen unter diesem “Rentner first” schlummern.
Mit freundlichem Gruß
H. Piper
Sehr geehrter Herr Piper,
dass Sie sich für mein Buch interessieren, freut mich, und ich hoffe, Sie legen es nach den ersten Seiten nicht aus der Hand. Ich finde ja, dass der Rentner aus dem Eingangszitat sehr wichtige Fragen stellt, genau deswegen habe ich sie an den Anfang gestellt. Das ganze Buch versteht sich auch als Versuch einer Antwort auf Fragen wie diese. Die Problematik ist wirklich zu komplex, als dass die sich in wenigen Zeilen behandeln ließe. Das spürt man auch in Ihrer Email: Wie viele Themen da zusammenkommen: religiöse und gesellschaftspolitische.
Ich halte es für falsch Menschen in Not gegeneinander auszuspielen. Wir können gemeinsam Wege suchen und finden, die etwa die Probleme auf dem Wohnungsmarkt beheben – für Geflüchtete und Alteingesessene. Und immerhin werden jetzt auch in der Bundespolitik erkennbar erste Schritte unternommen und der jahrzehntelang vernachlässigte soziale Wohnungsbau ist endlich wieder auf der politischen Agenda.
Wir können, wenn wir das wollen, auch den Zusammenhalt in unserem Land gestalten – in unseren konkreten Nachbarschaften, auch wenn sie vielfältiger und anstrengend sind. Dafür braucht es Geduld und Zeit, Strukturen und Finanzierung, aber eben auch das Engagement der Einzelnen. Jeder und jede wie er oder sie kann.
Stichwort Barmherzigkeit. Ich glaube nicht, dass Barmherzigkeit Grenzen hat. Da ist unser Glaube sehr anspruchsvoll und verlangt (vgl. Lukas 10), die Perspektive des Notleidenden anzunehmen – ohne Gesinnungsprüfung: „Woran merken die Notleidenden, dass sie einen Nächsten haben?“ Das ist das eine. Daneben steht, dass wir natürlich eine vernünftige, geordnete europäische Einwanderungspolitik brauchen. Dass wir Integration aktiv gestalten müssen und von den Neubürgerinnen und Neubürgern, den Asylsuchenden erwarten können, unser politisches System zu akzeptieren. Migration und Integration bleiben Jahrhunderthemen – ob es einem gefällt oder nicht.
Kirche und Staat: Ich bin nehme das anders wahr, als Sie. Weniger statisch, scheint mir. Auch die Kirchen haben ja sehr unterschiedliche Facetten und bilden eine Glaubensvielfalt ab, die in unserem Gemeinwesen gelebt werden darf. Außerdem übernehmen die Kirchen etwa mit den Trägern und Einrichtungen der Diakonie viel Verantwortung bei der Realisierung des Sozialstaats. Gleichzeitig sprechen wir auf politischer Ebene mit den Menschen in Verantwortung und bringen die Interessen der Menschen zu Gehör, für die wir diakonisch arbeiten. Die Kirche, der Staat, ja, die „gute Ordnung“, das sind doch in unserem demokratischen Gemeinwesen auch Sie und ich. Wir sind gefordert, uns einzubringen und unsere Gesellschaft durch unser Verhalten mitzugestalten, dass sie sich weiter zu einer guten Ordnung, an der alle teilhaben, entfalten kann.
Freundliche Grüße, Ulrich Lilie