Rente und Respekt

Respekt. Dieses Wort war zu schnell wieder verschwunden aus der Debatte um Hubertus Heils Vorschlag zur Grundrente. Viel zu schnell, wie ich finde. Denn aus dem Begriff „Respekt-Rente“ linst immerhin die überfällige Einsicht hervor, dass es beim Streit um die Renten nicht nur um Geld und Zahlen, sondern um die Würde von wirklichen Menschen geht: um die Würdigung von Lebensläufen, den Respekt der Gesellschaft vor ihren unterschiedlichen Bürgerinnen und Bürgern mit ihren unterschiedlichen Arbeitsbiografien.

Eine Seniorin hält Geld in ihrer Hand im Seniorenzentrum Ulmenhof der Stephanus Wohnen und Pflege gGmbH in Berlin, Foto vom 13.05.2015. ©epd-bild/Juergen Blume

Ich bin überzeugt, dass das Fehlen von Respekt ein Kernproblem unserer Gesellschaft und vieler ihrer empörten Debatten ist: gerade das Fehlen des Respekts vor den sogenannten kleinen Leuten mit den kleinen Einkommen, den gebrochenen Erwerbsbiografien und den oft sehr anstrengenden Berufen.

Grundrente statt Grundsicherung

Und um die geht es ja bei der Grundrente aus dem Hause Heil: Um Menschen, die nach einem Berufsleben von mindestens 35 Jahren – Kindererziehungs- und Pflegezeiten mit regelmäßigen Einzahlungen in die Rentenversicherung werden zu Recht mitgerechnet –  im Alter sonst trotz lebenslanger Arbeit kaum über die Grundsicherung hinauskommen. Das kann nicht sein. Auch diese Menschen haben den Respekt der Gesellschaft verdient und eine Rente, die diesen Respekt wenigstens in Ansätzen spiegelt.

Insofern hatte es etwas Symptomatisches, dass sich die Diskutierenden beim Vorschlag zur Aufstockung der niedrigen Renten jetzt rasch wieder nur auf die Zahlen stürzen. Sie sollten lieber öffentlich über den Zusammenhang von Rente, Respekt und Anerkennung der Menschen sprechen, statt wieder nur über Machbarkeit und Bedürftigkeitsprüfung zu streiten.

Verzicht auf Beschämung

Um es vorwegzunehmen: Ich halte den Verzicht auf die Bedürftigkeitsprüfung bei der Grundrente für einen Schritt in die richtige Richtung. Denn dieser Verzicht erspart rund 3 bis 4 Millionen Menschen, übrigens Dreiviertel von ihnen sind Frauen, viele mit ostdeutschen Erwerbsbiografien,  die Beschämung – nach einem langen, anstrengenden  Arbeitsleben – den Staat um Hilfe bitten zu müssen. Wie oft habe ich als Gemeindepfarrer von anspruchsberechtigten alten Personen diesen Satz gehört: „Nein, ich möchte niemandem auf der Tasche liegen, zum Amt gehe ich auf keinen Fall!“. Unsere Fachleute gehen davon aus, dass bis zu 40 Prozent der Anspruchsberechtigten die Grundsicherung im Alter nicht beantragen.

Darum meine ich: soviel Umverteilung darf und muss sich unsere reiche Gesellschaft leisten können!

Bedürftigkeitsprüfung ist ein Verwaltungswort. Und Verwaltungsabläufe kennen keinen Takt und kein Gefühl, wenn es um Stolz oder Schamgefühle geht. Bevor einem Menschen in Deutschland Sozialleistungen gewährt werden, prüft der Staat zu Recht dessen Hilfebedürftigkeit. Diese ist nach Sozialgesetzbuch dann gegeben, wenn eine Person nicht oder nur unzureichend in der Lage ist, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Das ist die amtliche Seite.

Mach dich nackig!

In den Ohren vieler Menschen in Not heißt Bedürftigkeitsprüfung aber: „Mach dich nackig! Offenbare deine finanzielle, gesundheitliche Situation. Gestehe ein, dass du es alleine nicht geschafft hast.“

Da ist zum Beispiel die Friseurin, die 40 Jahre für Mindestlohn gearbeitet hat und heute eine monatliche Rente von rund 512 Euro erwarten kann. Muss man wirklich erst ihre Bedürftigkeit feststellen? Sollte man ihr die zusätzlich Grundrente von rund 448 Euro nicht selbstverständlich bewilligen?

Stolz und Stütze

Ich kann auch die alte Dame nicht vergessen, die ich als junger Pfarrer anlässlich ihres 85. Geburtstags zu Hause besuchte. Ich erinnere mein Erstaunen über das schäbige Treppenhaus, das ich hinter der schmucken Fassade nicht vermutet hätte, und das Erschrecken, als die allein im Dachgeschoss lebende Jubilarin mir ihre Wohnungstür öffnete. Die Dame lebte, nein, hauste unübersehbar in großer Armut.

Wir tranken dünnen Tee und im Gespräch wurde schnell deutlich, dass mir eine stolze Frau gegenüber saß. Staatliche Unterstützung für sich in Anspruch zu nehmen, kam für sie nicht in Frage: „Ich bin noch nie jemanden zur Last gefallen!“

Es war sehr schwer, sie dazu zu bewegen, doch Hilfe in Anspruch zu nehmen. Und ich glaube, sie hat nie wirklich aufgehört, sich dafür zu schämen. Die „Respekt-Rente“, die ohne Bedürftigkeitsprüfung auskommt, macht Ernst mit der Würde des Stolzes solcher starker Frauen und Männer.

Richtige Richtung

Jenseits jeder Parteipolitik: Der Aufschlag von Hubertus Heil geht in die richtige Richtung, auch wenn wir in der Diakonie uns weitergehende Reformen wünschen, damit die gesetzliche Rentenversicherung zukunftsfest finanziert ist und der veränderten Arbeitswelt tatsächlich gerecht wird.

In wenigen Monaten wird im Osten gewählt, die Anerkennung von Lebensläufen wird im Wahlkampf eine große Rolle spielen. Darum ist zu hoffen, dass die Koalition sich bei der Respekt-Rente schnell einig wird.

Die Friseurin und vieler ihrer Kolleginnen müssen sonst weiter auf Anerkennung und einen halbwegs auskömmlichen Lebensabend ohne staatlichen Rundumcheck warten, während Google  und Co weiterhin kaum Steuern zahlen. Die Friseurin wird sich bestenfalls mit ihrem Stimmzettel melden. Im schlimmeren Fall aber ganz aus der Demokratie abmelden. Wie viel zu viele mit ihr.