Viele Debatten über Migrations- und Integrationspolitik kranken in unserem Land aktuell oft an einer Art Realitätsverlust. In ihrem Hintergrund raunt und scheppert das immer gleiche Deutungsraster von der bedrohlichen Veränderung durch die Fremden. Das führt zu fehlgeleiteter Politik.
Ein jüngeres Beispiel für den Sound dieses Hintergrundraunens und -schepperns lieferte dieser Tage Joachim Herrmann (CSU), seines Zeichens bayerischer Innenminister. Anfang der Woche wurde er im Kontext des CDU-Werkstattgesprächs bei Zeit-Online folgendermaßen zitiert: „Wir lieben unser deutsches Vaterland, so wie es ist.“
Und dann spricht er von einer besseren Kontrolle des Zuzugs, von kultureller Identität und der christlichen Prägung, die nicht über Bord geworfen werden dürfe. Als hätte die Schallplatte einen Sprung bekommen.
Ich frage mich: Von welchem Land redet er eigentlich, immerhin Innenminister eines schönen und bedeutenden Bundeslandes unseres schönen und vielgesichtigen Landes, das in einem tiefgreifenden Transformationsprozess steckt? Kennt er denn die Zahlen nicht? Lässt er sie sich in seinem Ministerium nicht vorlegen? Oder will er sich einfach nicht mit ihnen beschäftigen?
Leben im Einwanderungsland
Fast 24 Prozent der Bevölkerung in Deutschland hatte 2017 einen Migrationshintergrund. In Ostdeutschland 6,8 und in Westdeutschland und Berlin 26,5 Prozent. Wir reden von 19,3 Millionen Menschen. Von denen wiederum besitzt die Hälfte einen deutschen Pass.
Gehören die zu Herrmanns „Vaterland, so wie es ist“? Meint der Innenminister auch sie, wenn er von seiner Liebe zum Vaterland spricht?
Bereits im Mikrozensus von 2011 konnte man lesen, dass mehr als 58 Prozent der Kinder unter sechs Jahren einen Migrationshintergrund hatten. Im bayerischen Augsburg zum Beispiel mehr als 61 Prozent, in Frankfurt/Main 75 und in Berlin immerhin fast 44 Prozent.
Gehören sie zu unserem deutschen Vaterland dazu? In welcher Sprache reden wir von was, wenn wir ernsthaft über das schöne Vater- und Mutterland, über das Migrationsland Deutschland sprechen? Und mit wem sprechen wir? Und mit wem nicht?
Bunt, bunter, Deutschland
Die Zahlen lassen sich hochrechnen. Sie sind, was den Mikrozensus angeht, 8 Jahre alt. Und da aus Kindern bekanntlich Leute werden, liegt es auf der Hand, dass wir weniger als eine Generation brauchen werden, bis Deutschland in vielen Regionen genauso „bunt“ werden wird wie heute schon Frankreich, die Niederlande oder England. Länder also, die auf eine klassische Kolonialgeschichte zurückblicken und sich schon lange als Einwanderungsländer verstehen. Und von deren Fehlern wir lernen könnten.
Zahlen und Fakten
So sind die Fakten. Ob „melting pot“ oder „salad bowl“ – unser deutsches Vaterland, das Herrmann beschwört, ist bereits bunt und wird immer bunter. Und eben nicht erst das Deutschland von morgen, sondern bereits das Deutschland von heute.
Auch was die christliche Prägung angeht, die mir sehr, sehr kostbar ist, gibt es Wahrheiten, die einfach zur Kenntnis zu nehmen sind: Wir werden uns bereits im laufenden Jahr damit zu beschäftigen haben, dass nur noch etwa die Hälfte der Bevölkerung der Bundesrepublik in einer christlichen Kirche sein wird.
Oder Stichwort Arbeitsmarkt: Die Bertelsmann-Stiftung hat uns gerade erst vorgerechnet, dass Deutschlands Arbeitsmarkt ohne eine jährliche Zuwanderung von 260 000 Personen pro Jahr gar nicht funktionieren kann.
Gestaltung, nicht Abwehr
Das ist „das Vaterland“, in dem wir leben. Und diese Faktenlage auszublenden oder schön zu reden ist mittelfristig nichts anderes eine grobe politische Dummheit.
Mich stimmen solche wenig faktenbasierten Scheindebatten, in denen es fast ausschließlich nur noch ums Grenzen sichern und Abschieben geht, zunehmend ärgerlich. – Was für eine Zeitverschwendung! Was für eine Irreführung der Menschen!
Ehrlich und ernsthaft
Wann machen wir uns endlich ehrlich und arbeiten gemeinsam ernsthaft, mit aller Kraft an der Gestaltung eines sozial gerechten, innovativen und eben auch vielfältigen Deutschland? Wer erzählt die schöne Geschichte einer offenen Gesellschaft im bunten Väter- und Mütterland Deutschland?
Unser Land wird in einer rapide zunehmenden Geschwindigkeit heterogener – ob es uns gefällt oder nicht. Das schreit nach Gestaltung, nicht nach Leugnung und Vogel-Strauß-Politik.
Zumal diese Heterogenität ja ganz verschiedene Ursachen hat: Einerseits nimmt der Anteil der Kinder mit Migrationsgeschichte in den deutschen Groß- und Mittelstädten immer schneller zu. Andererseits haben die Bildungsexpansion und die Liberalisierungs-prozesse seit den Siebzigerjahren im „deutschen Vaterland“ ganz von alleine zu einer durchgehenden Diversifizierung der Lebensstile beigetragen.
Soziologen wie Andreas Reckwitz nennen das „Singularisierung“ und sprechen von einer neuen kulturellen Klassengesellschaft.
Was ist gutes Leben?
Die Folgen lassen sich unaufgeregt in einem Satz zusammenfassen: Auch die Vorstellungen davon, was ein gutes Leben auszeichnet, sind seit den Siebzigerjahren in Deutschland sehr viel heterogener geworden. Das heißt auch: die Fremdheitserfahrungen, die viele Menschen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft machen, nehmen zu. Schlicht und einfach, weil ihr Wohnumfeld, weil die Gesellschaft sich längst verändert hat – und zwar spürbar.
Das müsste gar kein Drama sein, aber es wird zu oft dramatisch. Auch weil Politiker wie Herrmann und Co nicht aufhören, wieder und wieder die Bundeskehrordnung und das Bild einer homogenen Gesellschaft zu beschwören und zum Maßstab ihres Handelns zu machen. Statt Heterogenität als Normalität anzuerkennen und zum Ausgangspunkt einer neuen deutschen Erzählung zu erklären.
Sie erzählen lieber alte Märchen und versäumen heute die kulturellen und sozialen Veränderungen politisch so zu gestalten, dass Teilhabe aller gelingen kann. Das ist fahrlässig.
Integration fördern und fordern
Vielfalt ist ja nicht einfach nur bunt und schön. Das versteht sich fast von selbst. Vielfalt verunsichert, Vielfalt kann verärgern. Und von dieser Verunsicherung, dem Ärger hören wir aktuell viel. Und es ist wichtig, diese Verunsicherung ernst zu nehmen.
Denn die besorgten Menschen haben ja Recht: Vielfalt, Diversität gelingt nicht einfach von selbst und versteht sich auch nicht von selbst. Im Gegenteil: Integration, Inklusion, Toleranz muss man fördern und fordern.
Vielfalt braucht Gestaltung. Multikulti braucht Moderation. Gemeinsame Ziele. Die diverse Gesellschaft muss neu lernen, Wir zu sagen, ohne ihre Vielfalt zu verleugnen. Darüber sprechen und streiten wir in unserem Land viel zu wenig.
Die Frage, die sich angesichts dieser Entwicklung stellt, lautet doch längst nicht mehr: Wollen wir das? Sondern: Wie wollen wir diesen soziodemografischen Wandel in unserem „Vaterland“ gestalten?
Welches Land wollen wir in zehn Jahren sein? Und wie können wir den Weg zu diesem neuen Wir durchbuchstabieren ? Gemeinsam. Und nicht nur mit einem Teil der Bevölkerung.
Spielentscheidend: die Kommune
Ungesteuerter Zuzug ist ein Problem, ja, aber eben nicht das Kernproblem, wenn es um Migration geht. Natürlich darf man nicht blauäugig sein, Sicherheit ist ein wichtiges Thema. Aber die Gewichtung stimmt derzeit überhaupt nicht mehr in den politischen Debatten.
Denn spielentscheidend für die Lebensqualität in unserem Land ist letztlich nicht nur, was an den Grenzen, sondern was heute innerhalb der Grenzen, in den Kommunen und unseren Nachbarschaften geschieht – oder eben nicht.
Wer sich allein auf Außengrenzen konzentriert, spielt den Unanständigen unter den Populisten in die Hände.
Spielentscheidend für die Zukunft Deutschlands wird zweierlei:
1. Finden wir angesichts der Faktenlage, dem „Ist“ in unserem Land, eine neue Erzählung, neue Bilder für ein innovatives, sozial gerechtes und eben auch buntes Deutschland?
Und 2. Gelingt es uns gemeinsam in unseren immer unterschiedlicher und ungleicher werdenden Kommunen in unserem schönen Land den Alltag für all diese unterschiedlichen Menschen lebenswert zu gestalten?
Damit alle unabhängig von Hautfarbe, Dialekt, Portemonnaie, Geschlecht oder Religion die gleichen Teilhabechancen und -pflichten haben.
Darüber müssen wir reden. Am besten heute.