Ein wunderbares Indian-Summer-Wochenende in Berlin. Meine Frau kommt gerade von ihrem Gottesdienst im Krankenhaus zurück, und spontan entscheiden wir uns für eine gemeinsame Fahrradtour durch die sonnigen und buntgeblätterten Berliner Herbstwälder. Und machen nach einer guten Stunde einen glücklichen Überraschungsfund, ein kleines Museumscafé, das wir noch gar nicht entdeckt hatten. Es ist bezaubernd gelegen, ein wenig abgeschieden, und die Sonne scheint warm in den von großen Bäumen und Mauern umgebenen Hof. Und das Beste: Der Kuchen wie der Kaffee sind hervorragend und wir sind neben einer Dame mit Hund die einzigen Gäste. Ein wunderbarer Ort zum Erzählen.
Bis sich eine zweite Dame an einen benachbarten Tisch setzt, ebenfalls Kaffee und Kuchen bestellt und dann für uns alle unüberhörbar (viel zu) laut zu telefonieren beginnt: „Du sitzt sicher in der Badewanne, ich denke gerade an Dich und bin einfach mal mit dem Rad losgefahren, ich musste einfach raus, einfach etwas machen, habe mir ein Ticket gekauft und sitze jetzt im Park in einem sehr netten Café ..”. Obwohl wir es – ehrlich gesagt – gar nicht wissen wollten, berichtete die etwa siebzig Jahre alte Dame mit dem Fahrrad auch uns von ihrer Flucht aus der tristen Wohnung nach draußen.
Einsamkeit hat viele Gesichter. Da sind die Senioren, die in ihren Wohnungen auf Abwechslung warten – und sei es die Briefträgerin, der Paketzusteller, der Nachbar, der von der Arbeit kommt. Die berufstätigen Singles, die wegen ihres Jobs neu in die Stadt gekommen sind und die sich nach einer überbordenden Arbeitswoche vor der Ödnis des Wochenendes fürchten. Die Studenten, die auf den langen Fluren ihrer Wohnheime schwer Anschluss finden. Die Jugendlichen, die nach Stunden hinter ihren Computerbildschirmen aufschauen von den Legionen von Kunstfiguren gern mal einem richtigen Kumpel auf die Schulter klopfen oder in den Arm genommen werden wollen. Nur für einen kleinen Moment.
Eine neue Form der Einsamkeit infolge von Globalisierung und Digitalisierung
Die zunehmende Einsamkeit von vielen Menschen ist der Preis für die sich rasch verändernde Welt. Wir sind mobiler geworden, erlernen den Beruf nicht mehr beim Handwerker nebenan, sondern gehen zum Studieren in ferne Städte. Wir arbeiten nur noch selten fußläufig vom Zuhause, wechseln mit dem Job auch den Wohnort und damit einen großen Teil des Freundeskreises. Der Preis dafür, die Enge des Dorfes oder Stadtviertels, die Kontrolle der Familie und der Nachbarn hinter sich zu lassen – häufig heißt er Einsamkeit.
Früher war die Familie der Schutzraum, in den ich mich zurückziehen konnte. Heute sind es vielleicht auch virtuelle Räume und Netzwerke. Und die modernen Kommunikationsmittel? Sie können eine Hilfe sein. Der rasche Anruf bei der Familie. Schnell mal aus dem Mallorca-Urlaub mit Oma und Opa skypen. Ein Foto auf WhatsApp oder Facebook, um Freud oder Leid zu teilen. Während eine Fernbeziehung vor zwanzig, dreißig Jahren ein halbes studentisches Budget an Telefonkosten auffressen konnte, ist Kommunikation heute für kleines Geld zu haben.
Doch es ist eine Illusion, dass eine Fülle von digitalen Informationen und Kontakten die Versicherung gegen das Alleinsein ist. Viele Menschen erleben eine neue Form von Einsamkeit und Unsicherheit, weil sie plötzlich nicht mehr wissen, wo sie sich überhaupt verorten sollen und sich fragen: Bin ich, so wie ich bin, hier eigentlich noch richtig?
Einsamkeit ist eine Kehrseite von Mobilität und Geschwindigkeit, von Digitalisierung und Globalisierung. Das hat inzwischen auch die Politik erkannt. In Großbritannien gibt es sogar seit dem vergangenen Jahr eine Ministerin für Einsamkeit. Miriam Jane Alice Davis heißt sie. „Einsamkeit ist eine der größten Herausforderungen, denen unser Land gegenübersteht“, sagte sie in einem Interview. „Jeder kann damit konfrontiert werden, unabhängig vom Alter, Geschlecht oder Herkunft.“ Und Einsamkeit, das wissen wir, fördert nicht nur seelisches, sondern auch körperliches Leiden.
Mittel gegen die Volkskrankheit Einsamkeit
Was man dagegen tun kann? Sich einen Ruck geben. Sich mit alten Freunden verabreden. Erst mal raus aus der Bude und unter Leute gehen. Auch wenn die goldenen Herbsttage zu Ende gehen und der Winter beginnt – der bei uns in Berlin ja immer ganz besonders lang und grau ist. Und vielleicht auch mal bei der alten Nachbarin klingeln, die man schon ein paar Tage nicht mehr gesehen hat, und fünf Minuten plaudern. Mit dem Jungen mit der Nerd-Brille, mit dem sonst keiner spielt, auf dem Hof ein nettes Wort wechseln. Vielleicht mal wieder am Sonntagmorgen in den Gottesdienst gehen. Auch gemeinsames Singen hilft gegen Einsamkeit. Und weitet den Blick für Andere.
Und nicht zuletzt sind auch Kirche und Diakonie gefragt, wie sie ihr Kontaktnetz und ihre Angebote zum Beispiel für bürgerschaftliches Engagement als wirksames Antidot gegen die neue grassierende und krankmachende Volkskrankheit Einsamkeit einsetzen will (ein lesenswertes Beispiel: https://www.diakonie-duesseldorf.de/diakonie/ueber-uns/magazindialog/). Eine zukunftsweisende Initiative von digitalen und analogen Formaten gibt es schon. Sie heißt : #Keine(r) bleibt allein.