Der 9. November: Gedenken an den Mauerfall 1989 und die Reichspogromnacht 1938. Für mich blendet sich in diesem Jahr in alles, was ich rund um dieses Datum lese und erlebe, meine Leseerfahrung mit Ines Geipels tief beeindruckendem Bestseller „Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass“ ein.
Ein gleichermaßen zutiefst persönliches und hoch politisches Buch, denn es geht um Erinnerungen. Darum, wie in ihrer Familie und im Osten mit der Vergangenheit vor 1945 und vor 1989 umgegangen wird. Was aus den beiden deutschen Diktaturen erinnert wird, und was nicht; worüber geredet und worüber geschwiegen wird, wie die Vergangenheit der Großeltern und der Eltern verklärt wird.
Wie Geschichtspolitik weiterwirkt und wie das Verschweigen oder Verleugnen von Unrecht, von Gewalt und Hass die Generationen verbindet und auf vielfältige Weise zum Wiedergänger wird. „Als ob die Söhne die Sätze ihrer Väter und Großväter aus ihren Körpern herausschrien“, so wirken die populistischen Parolen von Pegida und Co auf die Schriftstellerin und Professorin für Verskunst an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch.
Ihr Buch geht mir nach. Während meiner Sommerreise durch Sachsen, Thüringen und Brandenburg, den wahlkämpfenden Bundesländern, habe ich in Gesprächen und Begegnungen immer wieder Ratlosigkeit und Zermürbtheit erlebt, auch Angst, Hass und Schweigen. Es macht anders Sinn, wenn ich Erlebtes und Gehörtes mit den Beobachtungen Geipels ins Gespräch bringe. Ihre These, dass AfD und Pegida den Osten auch davon entlasten, sich der eigenen Geschichte zu stellen, hilft mir auch die Wahlergebnisse der Landtagswahlen anders zu lesen.
Das Private ist politisch
Geipel nähert sich ihrem Thema in collagierten Kapiteln. Sie doziert nicht. Ihre Annäherung hat etwas Tastendes: wie sie Fakten und Erinnerungen der Familiengeschichte behandelt, wie sie in der Zeit vor und zurückgeht, Fäden spinnt von den Großeltern zu Generation Y.
Man spürt beim Lesen die tiefe Betroffenheit der Tochter, der Enkelin und großen Schwester, aber auch den geübt belesen-analytischen Blick der Intellektuellen. Das Private ist politisch. Bei der Lektüre begegne ich so auch den eigenen Familiengeheimnissen wieder, dem vielen Unausgesprochen, den Andeutungen und Verdrängungen in fast allen deutschen Familiengeschichten.
Geipel, Jahrgang 1960, ehemalige Weltklassesprinterin der DDR, hat viel zu Geschichten und Themen des Ostens publiziert. Den Erinnerungsweg, den sie anderen zumutet, um Verantwortung für die Gegenwart übernehmen zu können, ist sie selbst mit so viel Konsequenz gegangen, dass das Gespräch mit dem geliebten jüngeren Bruder Robby über Jahre abbrach. Er wollte sich nicht erinnern und sie konnte das, was er „Positive Verdrängung“ nannte, nicht ertragen.
Die Geschwister sehen sich erst in den langen Monaten des Sterbens des krebskranken Bruders wieder. Die Nähe ist noch da, die Distanz auch. „Wir lösten das nicht auf“, schreibt Geipel über die Unvereinbarkeit der Erinnerungen. Die Ratlosigkeit bleibt. Die Liebe auch. Und in dieser Verbindung wurzelt die große Stärke ihres Buches über das Erinnern im Osten Deutschland.
Denn Ihre respektvolle und gleichzeitig schonungslos-verzweifelte Annäherung ermöglicht, besser zu verstehen, warum so viele wie ihr Bruder auf positive Verdrängung setzen und warum es unverzichtbar für unsere Gemeinwesen ist, damit aufzuhören.
November-Ereignisse
Der 9. November ist ein Datum in Deutschland, das in jedem Jahr zur Erinnerung einlädt. Es gibt Menschen, die widmen ihr (Berufs)leben einem dieser November-Ereignisse. Versuchen zu verstehen, was eigentlich geschehen ist, beschäftigen sich mit Folgen und Ursachen. Schreiben Bücher, drehen Filme, zetteln Debatten an.
Es gibt Menschen, die blättern sich durch Fotoalben ihrer Eltern und Großeltern, lesen Urgroßvaters Feldpostbriefe, betasten das Mutterkreuz der Oma, riechen an der NVA-Uniform des Vaters, die sie im Kellerregal finden.
Folgen verdrängter Geschichte
Der 9. November ist der wahre Tag der Einheit. Er erinnert an die Opfer und die Täter in der deutschen Geschichte. Wir gedenken der unzähligen jüdischen Menschen, die vor 81 Jahren beraubt, gequält, erniedrigt und umgebracht wurden. Weil sie Juden waren. Wir erinnern an die Revolution 1918 und die Niederschlagung des Hitlerputsches 1923. Und freuen uns über die friedliche Überwindung eines Unrechtssystems im glücklichen Jahr 1989. Mit den widersprüchlichen Folgen verdrängter Geschichte.
Ob Ost oder West, die beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts haben unsere Familien über die Generationen hinweg tief geprägt. Mit diesem widersprüchlichen Erbe des 20. Jahrhunderts leben wir im wiedervereinten Deutschland.
Ich hoffe, wir finden einen Weg, wahrhaftig mit ihm umzugehen – ohne Verklärung und Vereinfachung. Damit wir uns den brennenden Themen des 21. Jahrhunderts wirklich widmen können. Und dabei nicht vergessen, wer Opfer und wer Täter war.