Darf man beim Sterben helfen? Selbstverständlich! Es ist ein Gebot der Liebe zu den Menschen, dafür zu sorgen, dass sie selbstbestimmt leben können bis zuletzt und auch im Sterben ihre Würde behalten. Dass sie entscheiden dürfen, ob sie Schmerzen erleiden können und wollen – oder nicht. Und trotzdem besorgt es mich, dass das Bundesverfassungsgericht heute den Weg dafür geebnet hat, Beihilfe zur Selbsttötung straffrei zu stellen. Allerdings treiben mich dabei nicht nur im engeren Sinn ethische Gründe oder religiöse Bedenken um. Genau so wenig möchte ich das Selbstbestimmungsrecht am Lebensende einschränken.

Kosten-Nutzen-Klima
Mich treibt vielmehr die Sorge um, dass ein durchökonomisiertes „Kosten-Nutzen-Klima“ in unserer Gesellschaft seine zutiefst gnadenlose Sicht auf Menschen, die nicht „performen“ können, weiter durchsetzt. Es ist eben sehr aufwändig und auch teuer, sehr alt, schwerstpflegebedürftig und/oder sehr krank, vielleicht sogar unheilbar krank zu sein und dabei angemessen versorgt und unterstützt zu werden. Lohnt sich das? Wer soll das bezahlen? Solche Fragen stellt uns das System schon heute.
Darum habe ich Zweifel, dass ein alter, schwacher, vielleicht einsamer und ängstlicher Mensch in einer „Marktgesellschaft“(Michael Sandel), wirklich frei und autonom entscheiden kann. Wenn der Neunzigjährigen klar wird, dass ihr fragiles Leben im Heim viel Geld kostet, und sie ihre geliebten Kinder in eine finanziell schwierige Lage bringt – wird sie ihren Wunsch, noch einmal die Amseln im Frühling singen zu hören, für wichtig halten?
Oder der schwer krebskranke Mann, der den Verlauf seiner Krankheit recherchiert hat und trotzdem noch hofft, dass es besser wird – d a r f der noch hoffen und Geld kosten, ohne sich rechtfertigen zu müssen?
Ich beobachte, wie in unserer immer älter werdenden Gesellschaft der finanzielle Druck auf den Gesundheits- und Pflegesektor steigt. Und damit auf die immer älter werdenden kranken Menschen, also auf jeden einzelnen von uns.
Recht auf Ressourcen
Wir alle werden älter, sind länger fit – was wunderbar ist – und sterben vermutlich hochaltrig, krank und altersschwach. Auch die Prognose von Alzheimer Europe, dass sich in der Bundesrepublik die Zahl der Demenzerkrankten bis 2050 voraussichtlich um 70 Prozent auf 2,7, Millionen erhöhen würde, beschäftigt mich.
Meine Sorge ist, dass es schleichend legitimer wird, zur Diskussion zu stellen, welches Leben noch lebenswert ist und also ein Recht auf Ressourcen hat. Ein Recht auf aktive Sterbehilfe kann dazu beitragen, diesen Weg zu ebnen. In einer solchen Gesellschaft wird es auf eine noch beängstigendere Art lebensbedrohlich, alt oder sterbenskrank zu werden.
Ich habe nicht immer so über Sterbehilfe gedacht: In den Achtzigerjahren beriet ich als evangelischer Theologe den „Arbeitskreis Alternativentwurf“. In dieser Runde arbeiten bis heute renommierte Strafrechtler*innen Vorschläge zu Gesetzesänderungen aus, die oft Einzug in die Gesetzgebung finden. Ich warb damals für einen offeneren Umgang mit der Sterbehilfe, denn mir saßen Erfahrungen am evangelischen Krankenhaus in Düsseldorf in den Knochen:
Unerträglich
Schreckliche Momente, in denen ich miterleben musste, wie – Gott sei Dank – nur wenige Menschen, qualvoll, unter furchtbaren Schmerzen, entstellt oder in großer Angst starben. Und wir konnten und durften damals nichts tun, damit es leichter für sie wird – trotz Palliativmedizin, für dessen Ausbau wir damals mit wenigen Verbündeten als Pioniere engagiert warben.
Mit diesen Bildern im Kopf erlebte ich damals ein geltendes Recht, aber auch eine sehr grundsätzlich argumentierende Kirche, als sehr wenig bereit, diesen Einzelfällen gerecht zu werden. Jede Form der Sterbehilfe abzulehnen und womöglich darauf zu bestehen, dass Menschen ihre Leiden als gottgegeben an- und hinnehmen, verträgt sich nicht mit dem Bild eines menschenfreundlichen Gottes. Barmherzigkeit lässt sich von der Not und dem Leiden des Menschen berühren, argumentiert nie nur vom hohen Ross einer unumstößlichen Ethik hinab.
Bis heute finde ich es unerträglich, wenn unbeteiligte Dritte sich anmaßen, einschätzen zu können, was ein leidender Mensch aushalten können muss. Das darf sich niemand anmaßen. Nur der leidende Mensch selber kann sagen: „Es geht noch.“ Oder eben: „Es geht nicht mehr.“ Für diese Perspektive werde ich mich immer stark machen.
Die Angst nehmen
Aber anders als in den Achtzigerjahren können wir den Menschen heute – in extremen Fällen mit einer palliativen Sedierung – wirksam helfen und ihnen die Angst nehmen, im Sterben ihre Würde zu verlieren.
Ich habe vielfach erlebt, was Palliativmedizin heute kann. Wie Menschen sich entspannen, wie sie in ihren wachen Phasen das Gespräch suchen, noch einmal aus dem Fenster schauen, sich am Gesang der Vögel oder einem Glas Sekt freuen und, ja, Lebensqualität genießen. Weil sie sich darauf verlassen können, dass ihnen, wenn ihnen das Leiden und der Schmerz unerträglich werden, verlässlich geholfen wird. Das wirkt wie ein sicheres Geländer am Abgrund.
Ich habe inzwischen auch so viele alte Menschen erlebt, die zwar unter der Abnahme ihrer Kräfte leiden. (Altern ist wirklich nichts für Feiglinge, wie die verwegene Hollywoodschönheit Mae West es formuliert hat.) Aber es gehört auch zum Altwerden, das habe ich beobachtet, zu entdecken, dass abnehmende Kraft, enger werdender Horizont und sogar Schmerzen Platz lassen für die Freude am Leben.
Kostbares Leben
Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der das nicht in Frage gestellt wird. In der die Adjektive sterbenskrank, schmerzfrei und würdevoll zusammengehören. In der menschliches Leben gerade auch in seiner Schwachheit als kostbar und wertvoll gilt, und in der angstfrei und begleitet gestorben werden darf, wenn die Zeit kommt.
Ich habe schon lange gesagt:
Verbietet nicht die aktive Sterbehilfe.
Aber knüpft sie an gute Bedingungen, die der “Sterbehelfer” erfüllen muss:
1. Ist die Diagnose des Sterbewilligen gesichert?
2. Gibt es Behandlungsalternativen?
3. Ist ggf. Palliativmedizin und Palliativpflege im erforderlichen Maße eingebunden?
4. Berücksichtigt der Sterbewunsch die Bedürfnisse der Angehörigen? (Manch einer will diesen keine Belastung sein, hat sie aber nie gefragt, ob diese die Belastungen nicht sogar gerne auf sich nehmen würden, wenn die oder der Betreffende nur am Leben bliebe…) Der “Sterbehelfer” müsste für solche Gespräche sehr gute Kompetenzen aufweisen
5. Sind Depressionen o.ä. ausgeschlossen, solange sie sich als behandelbar erweisen?
6. Ist der Sterbewillige einfach nur einsam und bräuchte statt der Spritze viel eher einen Sozialarbeiter und Hilfe zu einem lebenswerten sozialen Umfeld?
7. …
Sind solche und vielleicht weitere Möglichkeiten ausreichend berücksichtigt?
Erst wenn diese Fragen entsprechend abgearbeitet sind, sollte dem entsprechenden Wunsch nachgeben werden dürfen. Und die Helfenden müssten über die notwendigen medizinischen und sozialen Kompetenzen verfügen.
Sie müssten entsprechend medizinisch, psychiatrisch, palliativ, sozialarbeiterisch usw. vernetzt sein und die entsprechenden Kontakte haben und vermitteln können.
Sie bräuchten eine sehr gute Ausbildung. Sie bräuchten kritische Supervision, um ihre eigene Position in guter Weise zu hinterfragen und ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Sie bräuchten ein sehr gutes Einfühlungsvermögen. Und sie sollten dieser Verantwortung entsprechend gut bezahlt sein.
Dann wäre dem Kriterium der Selbstbestimmung immer noch entsprochen. Aber helfen würden nicht Menschen, die der Sterbehilfe bedingungslos positiv gegenüber stehen, sondern nur solche, die auch in der Lage und willens sind, lebenspositive Alternativen zu vermitteln.
Das würde auch dazu beitrage, das Thema aus der Tabuzone holen. Menschen, die nicht mehr weiter wissen, könnten wissen, dass es Gesprächspartner gibt, die sie bis zuletzt begleiten würden. Aber nicht vorschnell und unkritisch.
Und bei aller Selbstbestimmung: Wer will, dass einem jemand auf diese Weise beim Sterben hilft, der müsste dann auch damit leben, dass dieser jemand ihn so gut kennen lernt, dass er oder sie es mit seinem Gewissen vereinbaren kann, auch den letzten Schritt mitzugehen. Er müsste also auch Nein sagen können, wenn er es mit seinem /ihren Gewissen nicht vereinbaren kann.
Dem kann ich nur zustimmen!
Es macht mir Angst
Mein Mann hat Parkinson und
Ich COPD wir wollen leben
Es gibt soviel Hilfe zum Leben
Helga, ich hoffe, dass Ihr schon eine Haushaltshilfe habt. Ich bin froh, dass ich aufgrund des Pflegegrades 2 eine habe, denn ich könnte nicht mehr selber putzen. Und das Kochen erledigen wir zwei als Teamwork, es klappt gut, auch wenn ich sitze und Heinz steht!
Lasst uns noch so lange wie es geht den Alltag und das Leben meistern!! Da ich schon mal eine Nahtod-Erfahrung hatte, habe ich vor dem Sterben keine Angst, wohl aber vor dem Leiden, das man nicht aushalten kann! Macht es gut!
Liebe Frau Tappe, liebe Helga,
danke, dass Sie ein wenig von Ihrem Schicksal teilen und anschaulich machen, was wirklich wichtig ist. Niemals sollen kranke Menschen Angst haben müssen und sich allein gelassen fühlen.
Ich wünsche Ihnen viel Kraft für Ihren Weg und Gottes Segen,
Ihr Ulrich Lilie
Ich freue mich für euch, dass ihr einen guten Weg gefunden habt und wünsche euch noch viel Freude!
….es geht nicht darum, dass ein Dritter einen Menschen tötet, es geht darum, in einer aussichtslosen Situation dem Wunsch eines Schwerkranken nachzukommen. Einem gesunden 30-jährigen steht diese Sterbehilfe nicht zu Verfügung. Das Urteil kommt viele Jahre zu spät. Danke, dass jetzt der Weg freigemacht wurde. Jetzt haben Pflegekräfte mehr Zeit, sich um Menschen zu kümmern, die leben wollen, und verschwenden nicht die kostbare Zeit für diejenigen, die freiwillig aus dem Leben scheiden wollen.
Lieber Herr Hartmann,
vielen Dank für Ihren Kommentar. Sie haben ja im Blog gelesen, dass ich eine differenzierte Sicht auf das Thema habe. Ich werde mich immer für ein Gesundheitssystem einsetzen, in dem auch die Pflege eines schwerstkranken sterbenden Menschen nicht als Zeitverschwendung betrachtet wird.
Mit freundlichen Grüßen,
Ulrich Lilie
Hallo Herr Lilie,
vielen Dank für Ihren Beitrag zu diesem sensiblen Thema. Sowohl in diesem Blog als auch im Interview heute morgen im Deutschlandfunk finde ich Ihre Sichtweise und differenzierte Ausdrucksweise sehr gut, denn – wie Sie auch sagten – es wird heute sehr schnell polarisiert und dadurch immer schwieriger, dem auf die Spur zu kommen, was wirklich jemandes Meinung ist, und auch vernüftig und differenziert über ein Thema sprechen zu können, ohne gleich abgestempelt zu werden.
Ich bin von der Rechtssprechung des Gerichts erschrocken, da ich der Meinung bin, dass wir Menschen nicht das Recht haben, das von Gott geschenkte Leben selbst zu beenden. Denn wir müssen uns zugestehen, dass wir eben nicht allwissend sind und auch nicht die letzte Instanz. Daher finde ich es sehr wertvoll, von Ihnen – der zweifelsohne viel Erfahrung gerade im Umgang mit Sterbenden hat – zu hören, wie Sie die Auswirkungen eines solchen Urteils einschätzen und die Dinge beim Namen nennen. Vielen Dank für Ihre Bemühungen und ich wünsche Ihnen weiterhin Gottes reichen Segen, dass Sie viel Gehör finden und auf diese Art etwas in unserem Land bewegen können.
Ich bin sehr froh, dass das Verfassungsgericht das Gesetz zur Sterbehilfe kassiert hat. Das Gesetz hat zwar theoretisch die Sterbehilfe erlaubt, sie aber gleichzeitig so stark eingeschränkt, dass es praktisch unmöglich war, sie zu leisten ohne kriminalisiert zu werden. Ich empfand dieses Gesetz als unehrlich – die Sterbehilfe zu verbieten wäre ehrlicher gewesen.
Nun aber muss sich die Politik endlich der Verantwortung stellen und wir das hoffentlich tun. Die Schweiz (und andere Länder) macht seit Jahren vor, dass es geht. Und ich habe nicht den Eindruck, dass das zu einem “Dammbruch” geführt hätte.
Sehr geehrter Herr Lilie,
ich habe Ihre Reaktion auf das Karlsruher Sterbehilfeurteil mit Interesse und Sympathie gelesen, bin aber der Meinung, auch als Mitglied in der Sterberechtsorganisation Dignitas, dass jetzt zunächst einmal die Zeit gekommen ist, sich zu entschuldigen. Bei den vielen sterbewilligen Menschen, welche an der Verwirklichung ihrer Absicht gehindert wurden. Bei den Sterberechtsorganisationen, welche in der Verwirklichung ihrer Absicht, Sterbehilfe zu leisten, gehindert wurden. Die Kampagne gegen die Sterberechtsorganisationen trug und trägt faschistoide Züge. Ihr Anspruch auf Unschuldvermutung wurde mit Füßen getreten. Das ist unakzeptabel und muss umgehend durch eine Entschuldigung in aller Form beendet werden.
An Ihrem Statement zum Karlsruher Urteil, sehr geehrter Herr Lilie, fiel auf, dass es noch nicht angekommen zu sein scheint, dass Selbsttötung und die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Selbsttötungsassistenz Grundrechte in jeder Lebenslage ist. Egal wie sie begründet ist. Dies sollte aber denkerisch durchdrungen werden, will man sich sinnvoll in der neuen Situation positionieren.
So wäre es wünschenswert, das Übermoralisieren zu beenden. Die von Ihnen erneut vorgetragenen Bedenken sind nicht von der Hand zu wünschen. Aber das ändert nichts daran, dass es sehr wohl nachvollziehbar und ethisch verantwortbar ist, das eigene Leben zu beenden, um anderen nicht zur Last zu fallen. Selbsttötung hat grundsätzlich ungezählte gute Gründe; dies anzuerkennen ist eine Frage von Anstand und Kultur.
Leider hat Karlsruhe insofern versagt, als es kein Wort in Richtung Selbsttötung und terminales Leiden gesagt hat. Zwar referierte man die niederländische und die belgische Rechtslage, beließ es aber dabei. Ich bedauere, dass die Möglichkeit nicht angesprochen wurde, § 216 StGB (Tötung auf Verlangen) für die terminalen Situationen, die von den Patientenverfügungen erfasst werden, zu öffnen. Viele Menschen wollen, brauchen, verlangen diese Möglichkeit, auch ich.
Es mag angehen, dass die Kirchen nicht dazu zu Verfügung stehen können, sie zu befürworten. Aber wenigstens die evangelische Kirche sollte dieser Öffnung nicht im Wege stehen, die ein Gebot der Barmherzigkeit ist. Und erst recht nicht Sie, die Diakonie. Sie sollten sie fordern.
Zurück zu Dignitas, die zusammen mit der DGHS ihre Arbeit in Deutschland aufbauen. Suchen Sie das Gespräch mit ihnen. Lassen Sie Sterbehilfe und Sterbehilfeberatung in den diakonischen Einrichtungen zu. Arbeiten Sie mit diesen Organisationen zusammen, auch und gerade im Angebot seelsorgerlicher Begleitung Sterbewilliger.
Mit freundlichen Grüßen
Heribert Wasserberg, Berlin
Ev.-ref. Pfarrer i.R.
Diplom-Politikwissenschaftler
Sehr geehrter Herr Wasserberg,
in meiner Bewertung des Karlsruher Urteils habe ich vor allem die tatsächlichen Lebens- und Sterbenswirklichkeiten in unserer Gesellschaft im Blick. Das Bemühen um eine saubere juristische Interpretation des Grundgesetzes ist sicherlich aller Ehren wert, darf den Blick auf die Menschen aber nicht verstellen, für die sich hier im wahrsten Sinne existenzielle Fragen stellen.
Bei der Beantwortung dieser Fragen hilft Schwarz-Weiß nicht weiter, weshalb wir aus der unbegrenzten Selbstbestimmung auch keinen intellektuellen Fetisch machen sollten. Das Leben entscheidet sich im Graubereich. Deshalb ist es mir auch so wichtig, die gesellschaftliche Entwicklung im Gesundheitssystem nicht auszublenden, die mir und vielen Betroffenen große Sorgen macht.
Konkret heißt das: Gerade die gebrechlichen und hoch vulnerablen Menschen, über die wir hier ja sprechen, brauchen in unserer „Marktgesellschaft“ Verbündete für den Schutz ihre Lebensrechte. Nur so sind ihnen tatsächlich freie Entscheidungen möglich. Sie dürfen auf keinen Fall als Last für die Gesellschaft abgestempelt und gedrängt werden, auf medizinische Maßnahmen zu verzichten, etwa weil sie denken, dass ihre Behandlung zu teuer ist für die Angehörigen. Dies ist mir wichtiger als rein theoretische Freiheitspostulate, die allzu schnell an der Wirklichkeit vorbeigehen.
Mit freundlichen Grüßen,
Ulrich Lilie
Sehr geehrter Herr Lilie,
vielen Dank für Ihre Antwort. Wie die Sterbenswirklichkeit aussieht oder nicht, und ob der Autonomiebegriff des Bundesverfassungsgerichtes weltfremd und theoretisch ist oder nicht, werdn wir hier nicht ausdiskutieren können.
Werden wir also konkret, wie Sie wünschen: Angenommen, ich bin Bewohner eines diakonischen Altenheims und Behindertenheims, möchte mein Leben beenden und wünsche die Sterbehilfe von Dignitas. Darf Dignitas kommen, oder muss ich damit rechnen, dass der Vertrag gekündigt wird und ich rausfliege aus der Einrichtung?
Mit freundlichen Grüßen
Heribert Wasserberg
Sehr geehrter Herr Wasserberg,
das wäre in der Tat eine verstörende und in allen Details sehr genau zu reflektierende Entwicklung, die uns jetzt aber noch nicht ins Haus steht und darum auch nicht zu entscheiden ist. Jetzt müssen wir im konstruktiv-kritischen Dialog mit allen zu Beteiligenden zunächst das Urteil und die nächsten gesetzgeberischen Notwendigkeiten und Möglichkeiten prüfen und eingehend beraten. Denn eine vollautomatische Suizidbeihilfe-Praxis für Hochaltrige will das Urteil ja ausdrücklich nicht realisiert sehen. Also bitte keine Schnellschüsse und Schwarz-Weiß-Argumentationen: Unser Leben und seine Qualität entscheidet sich in der Fähigkeit zur Differenzierung. Und ein regelhafter Suizid von immer mehr alten Menschen in einer Marktgesellschaft, die Fitness, Jugendlichkeit und Gesundheit zur Norm erklärt, wäre ein schreckliches Indiz für den Verlust jeder Humanität. Dabei bleibe ich.
Mit freundlichem Gruß, Ulrich Lilie
“Ich habe inzwischen auch so viele alte Menschen erlebt, die zwar unter der Abnahme ihrer Kräfte leiden. (Altern ist wirklich nichts für Feiglinge, wie die verwegene Hollywoodschönheit Mae West es formuliert hat.) Aber es gehört auch zum Altwerden, das habe ich beobachtet, zu entdecken, dass abnehmende Kraft, enger werdender Horizont und sogar Schmerzen Platz lassen für die Freude am Leben.”
Falsch.
Genau so gut kann man sagen:
Schlechtes Augenlicht gehört dazu, wenn man die Brille ignoriert.
Der Rollstuhl gehört dazu, wenn man eine entsprechende Operation der Wirbselsäule ignoriert.
Sowas kann nur jemand sagen, der an religiöse Kategorien wie Schicksal glaubt.
Das steht Ihnen frei. Alle anderen wie mir – und nach allen Umfragen der 3/4 Mehrheit in Deutschland – steht es frei, das anders zu sehen, jetzt auch offiziell qua Verfassung (Sah der übergeordnete EGMR allerdings vorher schon lange so ebenso wie das BVerwG und der BGH).
Ich sehe auch keinen Sinn darin, ne Woche in einem Hospiz abgefüllt mit Opiaten zu liegen. Auch dann nicht, wenn sie wirklich ausreichend wirken. Das macht nur Sinn, wenn man an religiöse Kategorien wie “Leben nach dem Tod” und “Sterben als Prozess” glaubt. Das steht Ihnen frei. Alle anderen wie mir – und nach allen Umfragen der 3/4 Mehrheit in Deutschland – steht es frei, das anders zu sehen, jetzt auch offiziell qua Verfassung (Sah der übergeordnete EGMR allerdings vorher schon lange so ebenso wie das BVerwG und der BGH).
Glauben Sie, was Sie wollen, und sterben Sie wie Sie wollen.
Sowie Sie aber versuchen, Ihre Ansichten anderen Menschen per Gesetz qua Lobbyismus wie 2015 aufzuzwingen, verlassen wir den Boden von Verfassung, Menschenrechten und Demokratie.
Den Kampf wird die Kirche so verlieren wie den Kampf gegen Abtreibung, Homosexualität, Sexualkunde und und und zuvor, und dabei nur noch mehr Menschen verlieren.
Alleine dieses Jahr sind mit Portugal, Spanien und Deutschland drei Länder in der EU hinzugekommen.
Je nachdem wie das Verfassungsgericht im Juni in Österreich entscheidet sind es vier.
2025 wird die Mehrheit der Staaten in den EU Sterbehilfe-Gesetze haben.
Das ist gut so.
Sehr geehrter Herr Molitor,
vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich habe mein Ansicht ja umfassend dargelegt und möchte mich nicht wiederholen. We agree to disagree.
Drei kurze Anmerkungen nur: Sie haben bestimmt Quellen für die Zahlen, die Sie angeben: Drei Viertel der Bevölkerung haben keine Zweifel bei der Frage nach dem attestierten Suizid? Mit Verlaub: Das erscheint mir unwahrscheinlich. Auch wenn es den Menschen natürlich freisteht, eine andere Haltung zum Sterben zu haben, als ich.
Allerdings haben auch die Menschen wie ich, die – wie Sie glauben – eine Minderheitsmeinung vertreten, Raum in den Debatten in unserem Land. Ich finde, das spricht für unser Land.
Und:Ich denke nicht in “Gewinner-” und “Verlierer-Kategorien”. Als Christ kann ich ja mit dem Satz “Die Kraft ist in den Schwachen mächtig” (2. Korinther 12, 9) viel anfangen.
Mir freundlichen Grüßen,
Ulrich Lilie
Ich finde es sehr mutig, dass Sie diese Diskussion eröffnen, welche Rolle die Kirchen spielen sollten, bei assistiertem Suizid zu begleiten, beizustehen. Warum lehnen die Hochrangigen diese Diskussion so dezidiert ab? Ja, es ist ein schwieriges Thema, aber können sich die Kirchen überhaupt aus dem Thema raushalten? Wenn es in unserer Gesellschaft angekommen ist durch das Urteil des Bundesverfassungsgericht, haben die Kirchen dann nicht eine Verantwortung für diejenigen, die keine Kraft mehr zum Leben haben? Kann man diese Menschen dann wirklich allein lassen?
Ich rede dem Suizid nicht das Wort, aber wenn ein Mensch keinen Weg mehr sieht, mit einer bestimmten Diagnose zu leben, ist es dann nicht besser, er hat jemanden an seiner Seite, wenn er den letzten Weg geht.
Eine Freundin hatte den Mut, eine gemeinsame Freundin im Gebet zu begleiten, und ich habe äußerste Hochachtung vor ihr. Sie zog sich nicht hinter das Scheinargument zurück: Aber in der Bibel steht doch “Du sollst nicht töten”, weil das nicht in der Bibel steht. Dort heißt es: Du wirst nicht morden! Die Bibel wusste schon damals zu differenzieren. Und in dem Fall der Begleitung geht es nicht um niedere Beweggründe wie bei Mord, sondern um tätige Nächstenliebe, die es sich nicht leicht macht.
Es gibt sicher viel Redebedarf, aber der sollte genutzt werden. Ich möchte Sie darin ermutigen.
Debora Lapide
Die Kirchen können und dürfen sich nicht aus der Debatte heraushalten. Keine Frage. Doch bedarf es, gerade wenn es um ethische Dilemmata existenzieller Tiefe geht, vorher eines internen Klärungsprozesse, in dem z. B. klare Begriffe gefunden und konkretere Vorstellungen in praktischer Hinsicht* gefunden werden. So rufen Herr Lilie, Frau Karle und Herr Anselm, die den begrifflich unscharfen FAZ-Art. verfaßt haben, den öffentlichen “Showdown” hervor, den (sicher nicht nur) Herr Lilie vermeiden wollte. Und es gilt auch Klarheit zu gewinnen über den Sachverhalt, daß das BVerfGer mit seinem Urteil zu § 217 mit dieser Art der Verabsolutierung des Selbstbestimmungsrechts einen Paradigmenwechsel vorgenommen hat, von dem neben anderen Fragen noch dahin, ob er für die Religionsgemeinschaften noch Schutz genug bietet, weil die Individualisierung im Grunde radikalisiert wird.
*Z. B. geht es um noch anderes als die Begleitung im Gebet und mit geistlichen Zuspruch, wozu auch das gemeinsame Aushalten von Schwierigstem und die Klage wie bei Hiob gehören, nämlich wie weit z. B. multiprofessionelle diakonische Kompetenzteams für ass. Suizid tätig werden. Wer schafft das totbringende Medikament herbei? Wer und auf welche Weise assistiert bei Beachtung der Freiwillentlichkeit und der Tatherrschaft des bzw. der Suizidwilligen? Wer beurteilt, ob ein Sterbewunsch freiwillentlich ist (ein solches Urteil muß ja der bzw. die beim Suizid Assistierende “fällen”)? Wer kümmert sich um die Gewissensnöte der Person, die beim Suizid assistiert? Welche fremdbestimmenden Elemente und Motive sind immer schon oder aktuell im Hintergrund von Selbstbestimmung? Und wäre das wirklich so etwas wie “barmherzig”, wenn das Herz eines anderen Menschen, selbst wenn sie bzw. er es will, zum völligen Stillstand gebracht wird? Diese und zahllose weitere Fragen müssen wenigstens gestellt und anfangsweise beantwortet werden, wenn die Würde schwerstkranker und suizidwilliger Mitmenschen neu und unbedingt geachtet werden soll…
Sehr geehrter Herr Schliep,
vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich stimme Ihnen voll und ganz zu: All die von Ihnen aufgeworfenen Fragen – und noch mehr – sind nun zu diskutieren und in unseren Meinungsbildungsprozessen, Fachforen und Diskussionen zu klären. Und wenn wir das getan haben, kann und soll immer noch niemand zu irgendetwas genötigt werden, sondern muss frei entscheiden könne, ob er oder sie sich beteiligen wollen. Die Einseitigkeit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts habe ich bereits sehr früh öffentlich kritisiert, zum Beispiel in einem Interview mit dem Deutschlandfunk.
Mit freundlichen Grüßen, Ulrich Lilie