Beim Sterben helfen

Darf man beim Sterben helfen? Selbstverständlich! Es ist ein Gebot der Liebe zu den Menschen, dafür zu sorgen, dass sie selbstbestimmt leben können bis zuletzt und auch im Sterben ihre Würde behalten. Dass sie entscheiden dürfen, ob sie Schmerzen erleiden können und wollen – oder nicht. Und trotzdem besorgt es mich, dass das Bundesverfassungsgericht heute den Weg dafür geebnet hat, Beihilfe zur Selbsttötung straffrei zu stellen. Allerdings treiben mich dabei nicht nur im engeren Sinn ethische Gründe oder religiöse Bedenken um. Genau so wenig möchte ich das Selbstbestimmungsrecht am Lebensende einschränken.

Sterben in Würde: Die Palliativmedizin verfügt heute über viele Mittel, Schmerzen zu lindern.           © epd-bild / Werner Krüper

Kosten-Nutzen-Klima

Mich treibt vielmehr die Sorge um, dass ein durchökonomisiertes „Kosten-Nutzen-Klima“ in unserer Gesellschaft seine zutiefst gnadenlose Sicht auf Menschen, die nicht „performen“ können, weiter durchsetzt. Es ist eben sehr aufwändig und auch teuer, sehr alt, schwerstpflegebedürftig und/oder sehr krank, vielleicht sogar unheilbar krank zu sein und dabei angemessen versorgt und unterstützt zu werden. Lohnt sich das? Wer soll das bezahlen? Solche Fragen stellt uns das System schon heute.

Darum habe ich Zweifel, dass ein alter, schwacher, vielleicht einsamer und ängstlicher Mensch in einer „Marktgesellschaft“(Michael Sandel), wirklich frei und autonom entscheiden kann. Wenn der Neunzigjährigen klar wird, dass ihr fragiles Leben im Heim viel Geld kostet, und sie ihre geliebten Kinder in eine finanziell schwierige Lage bringt – wird sie ihren Wunsch, noch einmal die Amseln im Frühling singen zu hören, für wichtig halten?

Oder der schwer krebskranke Mann, der den Verlauf seiner Krankheit recherchiert hat und trotzdem noch hofft, dass es besser wird – d a r f der noch hoffen und Geld kosten, ohne sich rechtfertigen zu müssen?
Ich beobachte, wie in unserer immer älter werdenden Gesellschaft der finanzielle Druck auf den Gesundheits- und Pflegesektor steigt. Und damit auf die immer älter werdenden kranken Menschen, also auf jeden einzelnen von uns.

Recht auf Ressourcen

Wir alle werden älter, sind länger fit – was wunderbar ist – und sterben vermutlich hochaltrig, krank und altersschwach. Auch die Prognose von Alzheimer Europe, dass sich in der Bundesrepublik die Zahl der Demenzerkrankten bis 2050 voraussichtlich um 70 Prozent auf 2,7, Millionen erhöhen würde, beschäftigt mich.

Meine Sorge ist, dass es schleichend legitimer wird, zur Diskussion zu stellen, welches Leben noch lebenswert ist und also ein Recht auf Ressourcen hat. Ein Recht auf aktive Sterbehilfe kann dazu beitragen, diesen Weg zu ebnen. In einer solchen Gesellschaft wird es auf eine noch beängstigendere Art lebensbedrohlich, alt oder sterbenskrank zu werden.

Ich habe nicht immer so über Sterbehilfe gedacht: In den Achtzigerjahren beriet ich als evangelischer Theologe den „Arbeitskreis Alternativentwurf“. In dieser Runde arbeiten bis heute renommierte Strafrechtler*innen Vorschläge zu Gesetzesänderungen aus, die oft Einzug in die Gesetzgebung finden. Ich warb damals für einen offeneren Umgang mit der Sterbehilfe, denn mir saßen Erfahrungen am evangelischen Krankenhaus in Düsseldorf in den Knochen:

Unerträglich

Schreckliche Momente, in denen ich miterleben musste, wie – Gott sei Dank – nur wenige Menschen, qualvoll, unter furchtbaren Schmerzen, entstellt oder in großer Angst starben. Und wir konnten und durften damals nichts tun, damit es leichter für sie wird – trotz Palliativmedizin, für dessen Ausbau wir damals mit wenigen Verbündeten als Pioniere engagiert warben.

Mit diesen Bildern im Kopf erlebte ich damals ein geltendes Recht, aber auch eine sehr grundsätzlich argumentierende Kirche, als sehr wenig bereit, diesen Einzelfällen gerecht zu werden. Jede Form der Sterbehilfe abzulehnen und womöglich darauf zu bestehen, dass Menschen ihre Leiden als gottgegeben an- und hinnehmen, verträgt sich nicht mit dem Bild eines menschenfreundlichen Gottes. Barmherzigkeit lässt sich von der Not und dem Leiden des Menschen berühren, argumentiert nie nur vom hohen Ross einer unumstößlichen Ethik hinab.

Bis heute finde ich es unerträglich, wenn unbeteiligte Dritte sich anmaßen, einschätzen zu können, was ein leidender Mensch aushalten können muss. Das darf sich niemand anmaßen. Nur der leidende Mensch selber kann sagen: „Es geht noch.“ Oder eben: „Es geht nicht mehr.“ Für diese Perspektive werde ich mich immer stark machen.

Die Angst nehmen

Aber anders als in den Achtzigerjahren können wir den Menschen heute – in extremen Fällen mit einer palliativen Sedierung – wirksam helfen und ihnen die Angst nehmen, im Sterben ihre Würde zu verlieren.

Ich habe vielfach erlebt, was Palliativmedizin heute kann. Wie Menschen sich entspannen, wie sie in ihren wachen Phasen das Gespräch suchen, noch einmal aus dem Fenster schauen, sich am Gesang der Vögel oder einem Glas Sekt freuen und, ja, Lebensqualität genießen. Weil sie sich darauf verlassen können, dass ihnen, wenn ihnen das Leiden und der Schmerz unerträglich werden, verlässlich geholfen wird. Das wirkt wie ein sicheres Geländer am Abgrund.

Ich habe inzwischen auch so viele alte Menschen erlebt, die zwar unter der Abnahme ihrer Kräfte leiden. (Altern ist wirklich nichts für Feiglinge, wie die verwegene Hollywoodschönheit Mae West es formuliert hat.) Aber es gehört auch zum Altwerden, das habe ich beobachtet, zu entdecken, dass abnehmende Kraft, enger werdender Horizont und sogar Schmerzen Platz lassen für die Freude am Leben.

Kostbares Leben

Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der das nicht in Frage gestellt wird. In der die Adjektive sterbenskrank, schmerzfrei und würdevoll zusammengehören. In der menschliches Leben gerade auch in seiner Schwachheit als kostbar und wertvoll gilt, und in der angstfrei und begleitet gestorben werden darf, wenn die Zeit kommt.