„Where can we find light in this never ending shade?“ – „Wo finden wir Licht in dieser unendlichen Finsternis?“ Die Frage, mit der der eigentliche Star bei der Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten, die 22-jährige Amanda Gorman, ihre flammende Rezitation begann, hallt nach. Und natürlich wäre es keine angemessene Antwort auf diese Frage, schlicht eine Kerze anzuzünden und in ein Fenster zu stellen. Oder vielleicht doch?
Um es gleich zu sagen: Ich finde Frank-Walter Steinmeiers Lichtfenster-Idee großartig. Sie kann unserer Gesellschaft guttun. Und zwar auch auf lange Sicht.
Zeichen des Mitgefühls
Vor einer Woche hat der Bundespräsident ein einfaches Licht-Ritual vorgeschlagen: ein öffentliches Zeichen unserer gemeinsamen Trauer um die viel zu vielen an Corona Verstorbenen und ein stilles Zeichen des Mitgefühls an ihre Hinterbliebenen, dass wir sie in ihrem Schmerz nicht allein lassen. Täglich kommen immer noch hunderte Tote dazu. Das sind nicht nur unzählige individuelle Tragödien, das betrifft auch unser Miteinander in der Gesellschaft.
Darum ist es eine gute Idee, unsere vielfältige, diverse und hoch differenzierte Bevölkerung dazu einzuladen, einmal in der Woche zusammen innezuhalten. Uns wenigstens für einen Moment unterbrechen lassen.
Corona-Dunkelheiten
Bis es nach Ostern eine zentrale Trauerfeier, ein öffentliches Gedenken für die Opfer der Pandemie geben kann, sind wir gebeten, jeden Freitag ein paar Minuten in der Abenddämmerung zu reservieren, um genau dann ein Licht anzuzünden, wenn die Dunkelheit hereinbricht. Eine symbolische Geste der Verbundenheit und der Trauer – nicht mehr und nicht weniger.
In den zurückliegenden Monaten mit Corona-Dunkelheiten, wie den Monaten, die vor uns liegen, brechen Zumutungen verschiedenster Art in jedes Leben ein. Wir haben viel zu betrauern. Im Sommer war das für manche noch leichter zu ertragen, aber in den düsteren Wintermonaten sind Krankheit und Angst, Verlust, Tod und Trauer, Vereinsamung und Erfahrungen von Ohnmacht für viele schwerer auszuhalten.
Unsichtbare Trümmer
Zu viel Leid bleibt im Dunkel verborgen. Bei dieser stillen Katastrophe wird oft einsam gestorben und gelitten. Und viele Trümmerberge sind eher unsichtbar: Wirtschaftliche Existenzen stehen auf der Kippe oder wurden bereits ausgelöscht. Trotz großzügiger Hilfen.
Andere wissen nicht, wie sie die Arbeit schaffen sollen und schuften längst jenseits ihrer Belastbarkeitsgrenzen. Ein Ende ist noch nicht in Sicht. Alle sind müde, viele ratlos oder resigniert und manche hochexplosiv: „Where can we find light in this never ending shade?“
Seit einer Woche nun folgen Menschen in ganz Deutschland dem Beispiel unseres Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier. Zum Einbruch der Dunkelheit stellen sie gut sichtbar eine Kerze in ein Fenster. Bis zum nächsten Morgen darf sie brennen. Viele von ihnen posten Bilder ihrer Kerzen in den sozialen Medien, und im Internet vervielfältigt sich ihr Licht weit in den digitalen Raum hinein: Licht scheint in der Finsternis.
Licht in der Finsternis
Es müssen nicht große – und allzu oft leere – Worte und ausladende Gesten sein, um uns und anderen zu versichern, dass wir nicht alleine sind. Eine Kerze reicht. Sie löst keine Probleme, aber verschafft eine Pause. Eine innehaltende Unterbrechung. Genau wie die Frage Amanda Gormans : „Wo ist Licht in der Finsternis?“
In der zu Ende gehenden Epiphaniaszeit können Christen bei der Formulierung vom Licht, das in der Finsternis scheint, gar nicht anders, als an Jesus Christus zu denken: Er ist der Morgenstern, „Licht vom Licht, das durch die Finsternisse bricht“ ( EG 74). In den Gottesdiensten am Sonntag hören wir noch einmal diese lichten Melodien, werden wir noch einmal an den Grund unserer Hoffnung erinnert.
Auch die Weihnachtszeit endet in der evangelischen Welt erst übermorgen, am letzten Sonntag nach Epiphanias. Aus Innenstädten und den meisten Wohnzimmern ist Weihnachten dann schon lange ausgezogen. Nur die Kirche nimmt sich für das Fest des Lichts, das in die Finsternis scheint, wie immer mehr Zeit, als der Rest der Welt. Und in diesem Jahr tut es besonders gut, uns zum Ende des Januars noch einmal an das Licht von Weihnachten erinnern zu lassen.
Netz der Hoffnung
Das Kerzenritual des Bundespräsidenten, die Licht-Frage von Amanda Gorman verbinden sich mit dem Glauben an den menschgewordenen Gott, Licht der Welt, zu einem feinen, aber tragfähigen Netz der Hoffnung. Vielfältige religiöse und nichtreligiöse Erfahrungswelten entdecken eine ermutigende gemeinsame Sprache, jenseits der Worte. In einem wunderbaren Dreiklang entsteht hier etwas, was uns bei einem menschlichen Miteinander und Suchen orientiert.
Amanda Gorman gab am Ende ihres leidenschaftlichen Vortrags übrigens selbst eine Antwort auf ihre eingangs gestellte Frage: „Da ist immer Licht“, sagte sie, „wenn wir nur tapfer genug sind, es zu sehen, tapfer genug, es zu sein.“ – „Ihr seid das Licht der Welt„, legt uns Jesus an Herz. Und eine Kerze ins Fenster zu stellen, kann durchaus ein hoffnungsvoller Anfang sein. Ich bin heute Abend dabei.