Erwachsene tragen die Verantwortung, wenn es um sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen geht. Immer. Nicht allein als Täterinnen oder Täter. Erwachsene machen die Regeln in unserem Land. Nicht nur in den Familien. Sie wirken darauf hin, ob es Schutzkonzepte gibt, die Schulen und Kindergärten, Jugendorchester, Kirchengemeinden, Sportvereine und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und nicht zuletzt das Internet zu einem sichereren Ort werden lassen. Oder nicht.
Respekt und Hochachtung
Wir Erwachsenen haben immer noch sehr viel zu lernen. Viele von uns engagieren sich inzwischen zwar gemeinsam in einem breiten gesellschaftlichen Bündnis gegen sexuelle Gewalt und es ist in den vergangenen Jahren zum Glück viel geschehen. Aber ohne den hartnäckigen Einsatz zahlloser Betroffener, hätte sich weit weniger bewegt.
Ich habe großen Respekt und Hochachtung vor dem Kampf dieser mutigen Menschen, die das Schweigen über ihren erlittenen Missbrauch gebrochen haben; die seit Jahren und Jahrzehnten dafür streiten, dass solche Qual sich nicht Generation für Generation wiederholt. Ohne ihre Erfahrungen geht es nicht. Sie verdienen unser aller höchsten Respekt.
Ein inzwischen unersetzliches Forum für diesen kollektiven Lernprozess ist der Nationale Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Er wurde im Dezember 2019 gemeinsam vom Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und dem Bundesfamilien-ministerium gegründet.
Kollektiver Lernprozess
Hier arbeiten langfristig und interdisziplinär Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Fachpraxis gemeinsam mit Betroffenen an dem Ziel, sexueller Gewalt gegen Kindern und Jugendlichen endlich dauerhaft entgegenzuwirken. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) bringt sich mit sehr viel Expertise und Engagement in dieses Forum ein.
In den zurückliegenden Monaten hat der Nationale Rat in interdisziplinären Arbeitsgruppen zu den Themen „Schutz“, „Hilfen“, „Kindgerechte Justiz“, „Schutz vor Ausbeutung und internationale Kooperation“ sowie „Forschung und Wissenschaft“ gearbeitet. Erste Ergebnisse wurden in der vergangenen Woche vorgestellt und in einer „Gemeinsamen Verständigung“ veröffentlicht. Eine lohnende Lektüre.
Der Zwischenbericht zeigt überdeutlich: Der wirksame Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt erfordert ganz konkretes, gut vernetztes Handeln in vielen Arbeitsbereichen und von vielen Beteiligten.
Vernetztes Handeln
Auch darum ist es unverzichtbar, dass sich die teilnehmenden Verbände, unter anderem Fachorganisationen aus der Kinder- und Jugendhilfe, Kinderschutzverbände, Sportverbände, Wissenschaft und Forschung und Kommunale Spitzenverbände, aber auch Polizei, Justiz oder Schulpolitik dazu verpflichtet haben, der Vereinbarung entsprechend in ihren Arbeitsbereichen weiter zu wirken.
Für die Verbände der freien Wohlfahrtspflege sind besonders die Themen Schutz im Kontext von Inklusion und die Einbindung digitaler Lebenswelten eine Herausforderung, die noch stärker in den Blick genommen werden muss.
Risiken minimieren
Der eklatante Mangel an Konzepten und guter Praxis für die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit kognitiven, seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen ist eine Aufgabe, der sich die Verbände, die selber Träger von Einrichtungen und Dienste sind, stellen werden.
Die im Zwischenbericht vorgeschlagene systematische Herangehensweise wird Einrichtungen und Organisationen dabei unterstützen, unabhängig vom Engagement einzelner Personen zentrale Risiken zu minimieren. Schutzkonzepte stärken die Aufmerksamkeit und Sprachfähigkeit zum Thema sexuelle Gewalt, zugleich geben sie einen sicheren Handlungs-rahmen.
Schutzkonzepte auf sozialräumlicher Ebene einzuführen und umzusetzen, ist ein weiterer Schritt, um Bürgerinnen und Bürger und politische Entscheidungsträger einzubinden und die starre Versäulung der Handlungsfelder auch bei dieser Herausforderung zu überwinden. Wir können und wir müssen zukünftig viel besser zusammenarbeiten.
Bleibende politische Aufgabe
Auch für das Agenda-Setting im laufenden Wahljahr und den zukünftigen Koalitionsvertrag ist das Papier richtungsweisend. Denn wer immer die kommende Bundesregierung stellen wird – die wirksame Eindämmung sexueller Gewalt kennt keine parteipolitische Farbe. Sie ist – wie der Kampf gegen Rassismus – ein „Immer-wieder“-Thema.
Eine wirksame Eindämmung erfordert eine dauerhafte, hartnäckige und engagierte politische Bearbeitung und immer wieder die konkrete Umsetzung und Nachbesserung in den Handlungsfeldern, die für Täter so attraktiv und für Kinder und Jugendliche so gefährlich sind.
Darum freut es mich sehr, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Arbeit des Nationale Rats gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen sehr ernst nimmt. In der vergangenen Woche hat er Vertreterinnen und Vertreter des Rats zum Austausch geladen.
Das ist viel mehr als ein symbolisches Ereignis. Es bestätigt noch einmal mehr, dass sexuelle Gewalt eben kein Nischenthema ist, sondern unsere ganze Gesellschaft angeht.
Tatort Klassenzimmer
Denn jeder Ort, an dem Kinder und Jugendliche sich aufhalten, kann ein Tatort werden. Wir müssen derzeit leider davon ausgehen, dass in jedem Klassenzimmer zwei Kinder sitzen, die sexuelle Gewalt erleiden. Was bedeutet das für die Schul-Strukturen und eine Kultur der Prävention?
Wir wissen auch, dass die digitale Welt längst ein schrecklicher Umschlagplatz für unvorstellbare Bilder und unvorstellbares Leid geworden ist. Wir werden das Thema Vorratsdatenspeicherung neu zu verhandeln haben: Wie balancieren wir den notwendigen Opferschutz und den berechtigten Wunsch nach Datenschutz so aus, dass Täter wirklich schlechte Karten haben?
Sexuelle Gewalt zerstört
Sexuelle Gewalt an Kinder und Jugendlichen zerstört (Seelen-)Leben. Oft direkt vor unseren Augen. Wir müssen lernen über dieses bedrückende Thema offen und öffentlich zu sprechen. Mit den Betroffenen und mit den Verantwortlichen.
Wir alle sind verantwortlich für eine Kultur der Prävention und für einen wirksamen Schutz vor sexueller Gewalt – tagtäglich und überall. Wir schulden diesen Schutz allen Kindern und Jugendlichen.