Gemeinsam gegen sexuelle Gewalt

Erwachsene tragen die Verantwortung, wenn es um sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen geht. Immer. Nicht allein als Täterinnen oder Täter. Erwachsene machen die Regeln in unserem Land. Nicht nur in den Familien. Sie wirken darauf hin, ob es Schutzkonzepte gibt, die Schulen und Kindergärten, Jugendorchester, Kirchengemeinden, Sportvereine und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und nicht zuletzt das Internet zu einem sichereren Ort werden lassen. Oder nicht.

Sreenshot von einer Zoomsitzung
Screenshot aus der Beratung des Nationalen Rats gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen Ende Juni 2021. Foto: BMFSFJ

Respekt und Hochachtung

Wir Erwachsenen haben immer noch sehr viel zu lernen. Viele von uns engagieren sich inzwischen zwar gemeinsam in einem breiten gesellschaftlichen Bündnis gegen sexuelle Gewalt und es ist in den vergangenen Jahren zum Glück viel geschehen. Aber ohne den hartnäckigen Einsatz zahlloser Betroffener, hätte sich weit weniger bewegt.

Ich habe großen Respekt und Hochachtung vor dem Kampf dieser mutigen Menschen, die das Schweigen über ihren erlittenen Missbrauch gebrochen haben; die seit Jahren und Jahrzehnten dafür streiten, dass solche Qual sich nicht Generation für Generation wiederholt. Ohne ihre Erfahrungen geht es nicht. Sie verdienen unser aller höchsten Respekt.

Ein inzwischen unersetzliches Forum für diesen kollektiven Lernprozess ist der Nationale Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Er wurde im Dezember 2019 gemeinsam vom Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und dem Bundesfamilien-ministerium gegründet.

Kollektiver Lernprozess

Hier arbeiten langfristig und interdisziplinär Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Fachpraxis gemeinsam mit Betroffenen an dem Ziel, sexueller Gewalt gegen Kindern und Jugendlichen endlich dauerhaft entgegenzuwirken. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) bringt sich mit sehr viel Expertise und Engagement in dieses Forum ein.

In den zurückliegenden Monaten hat der Nationale Rat in interdisziplinären Arbeitsgruppen zu den Themen “Schutz”, “Hilfen”, “Kindgerechte Justiz”, “Schutz vor Ausbeutung und internationale Kooperation” sowie “Forschung und Wissenschaft” gearbeitet. Erste Ergebnisse wurden in der vergangenen Woche vorgestellt und in einer “Gemeinsamen Verständigung” veröffentlicht. Eine lohnende Lektüre.

Der Zwischenbericht zeigt überdeutlich: Der wirksame Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt erfordert ganz konkretes, gut vernetztes Handeln in vielen Arbeitsbereichen und von vielen Beteiligten.

Vernetztes Handeln

Auch darum ist es unverzichtbar, dass sich die teilnehmenden Verbände, unter anderem Fachorganisationen aus der Kinder- und Jugendhilfe, Kinderschutzverbände, Sportverbände, Wissenschaft und Forschung und Kommunale Spitzenverbände, aber auch Polizei, Justiz oder Schulpolitik dazu verpflichtet haben, der Vereinbarung entsprechend in ihren Arbeitsbereichen weiter zu wirken.

Für die Verbände der freien Wohlfahrtspflege sind besonders die Themen Schutz im Kontext von Inklusion und die Einbindung digitaler Lebenswelten eine Herausforderung, die noch stärker in den Blick genommen werden muss.

Risiken minimieren

Der eklatante Mangel an Konzepten und guter Praxis für die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit kognitiven, seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen ist eine Aufgabe, der sich die Verbände, die selber Träger von Einrichtungen und Dienste sind, stellen werden.

Die im Zwischenbericht vorgeschlagene systematische Herangehensweise wird Einrichtungen und Organisationen dabei unterstützen, unabhängig vom Engagement einzelner Personen zentrale Risiken zu minimieren. Schutzkonzepte stärken die Aufmerksamkeit und Sprachfähigkeit zum Thema sexuelle Gewalt, zugleich geben sie einen sicheren Handlungs-rahmen.

Schutzkonzepte auf sozialräumlicher Ebene einzuführen und umzusetzen, ist ein weiterer Schritt, um Bürgerinnen und Bürger und politische Entscheidungsträger einzubinden und die starre Versäulung der Handlungsfelder auch bei dieser Herausforderung zu überwinden. Wir können und wir müssen zukünftig viel besser zusammenarbeiten.

Bleibende politische Aufgabe

Auch für das Agenda-Setting im laufenden Wahljahr und den zukünftigen Koalitionsvertrag ist das Papier richtungsweisend. Denn wer immer die kommende Bundesregierung stellen wird – die wirksame Eindämmung sexueller Gewalt kennt keine parteipolitische Farbe. Sie ist – wie der Kampf gegen Rassismus – ein “Immer-wieder”-Thema.

Eine wirksame Eindämmung erfordert eine dauerhafte, hartnäckige und engagierte politische Bearbeitung und immer wieder die konkrete Umsetzung und Nachbesserung in den Handlungsfeldern, die für Täter so attraktiv und für Kinder und Jugendliche so gefährlich sind.

Darum freut es mich sehr, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Arbeit des Nationale Rats gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen sehr ernst nimmt. In der vergangenen Woche hat er Vertreterinnen und Vertreter des Rats zum Austausch geladen.

Das ist viel mehr als ein symbolisches Ereignis. Es bestätigt noch einmal mehr, dass sexuelle Gewalt eben kein Nischenthema ist, sondern unsere ganze Gesellschaft angeht.

Tatort Klassenzimmer

Denn jeder Ort, an dem Kinder und Jugendliche sich aufhalten, kann ein Tatort werden. Wir müssen derzeit leider davon ausgehen, dass in jedem Klassenzimmer zwei Kinder sitzen, die sexuelle Gewalt erleiden. Was bedeutet das für die Schul-Strukturen und eine Kultur der Prävention?

Wir wissen auch, dass die digitale Welt längst ein schrecklicher Umschlagplatz für unvorstellbare Bilder und unvorstellbares Leid geworden ist. Wir werden das Thema Vorratsdatenspeicherung neu zu verhandeln haben: Wie balancieren wir den notwendigen Opferschutz und den berechtigten Wunsch nach Datenschutz so aus, dass Täter wirklich schlechte Karten haben?

Sexuelle Gewalt zerstört

Sexuelle Gewalt an Kinder und Jugendlichen zerstört (Seelen-)Leben. Oft direkt vor unseren Augen. Wir müssen lernen über dieses bedrückende Thema offen und öffentlich zu sprechen. Mit den Betroffenen und mit den Verantwortlichen.

Wir alle sind verantwortlich für eine Kultur der Prävention und für einen wirksamen Schutz vor sexueller Gewalt – tagtäglich und überall. Wir schulden diesen Schutz allen Kindern und Jugendlichen.

4 Gedanken zu „Gemeinsam gegen sexuelle Gewalt“

  1. Es ist gut, dass die Diakonie sich offensiv an die Seite der von Gewalt Betroffenen stellt. Aber: Gilt das auch für uns ehemalige Verschickungsheim-Kinder in Einrichtungen der Diakonie/Inneren Mission ? Viele von uns leiden seit Jahrzehnten an den physischen und psychischen Übergriffen durch das Verschickungsheim-Personal, z.B. in Bad Sachsa, Norderney und anderswo. Manche leiden bis heute unter schweren Traumata. Auch ich gehöre zu dieser Gruppe von Verschickungskindern, ich war 1965,1967 und 1970 für jeweils 14 Wochen im Seehospiz. Bei meinem ersten Aufenthalt war ich gerade einmal 3 Jahre alt.
    Gesagt wird Einiges, aber das Entscheidende sind für uns die Taten. Wann endlich beginnt die wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Verschickungsgeschichte der Diakonie? wann können wir mit denen sprechen, die damals verantwortlich waren, damit wir verstehen, warum uns dieses Leid angetan wurde? Können wir auf Ihre Unterstützung setzen? Wie und wann bekommen wir Zugang zu unseren persönlichen Akten? Über eine Antwort würde ich mich freuen.

    1. Sehr geehrte Frau Lehne,
      vielen Kindern, die in den 50-er, 60-er und 70-er Jahren zu Erholungskuren verschickt worden sind, ist Leid geschehen, von dem sie traumatisiert worden sind – teils noch bis heute. Wir bedauern sehr, dass dies auch in Heimen in Trägerschaft der Diakonie, der damaligen Inneren Mission oder anderen evangelischen Trägern passiert ist. Auch wir sind an einer Aufarbeitung dieser Zeit sehr interessiert, die konkreten Vorbereitungen dazu sind angelaufen. Wir streben eine Studie an, bei der auch die Betroffenen gehört werden – sobald es losgeht, werden wir das mitteilen. Wir hoffen, dass dies noch in diesem Jahr möglich ist.
      Mit freundlichen Grüßen, Ulrich Lilie

      1. Ich kann meiner Vorrednerin Birgit Lehne nur beipflichten. Die Kinderkurheime der Diakonie in Niedersachsen waren von den 1960er bis in die 1980er Jahre eine wahre Oase der sexuellen – und medizinischen, psychologischen und letztlich systemischen – Gewalt. Eine komplexe Gewalt, die der Leitung der Diakonie in Hannover immer wieder zur Kenntnis gebracht wurde – ohne Reaktion, außer einer gesäuselten “Entschuldigung” seitens der Beauftragten Birgit Wellhausen.

        Inzwischen liegt seit Januar eine Petition an die Landtagspräsidentin Dr. Gabriele Andretta vor, in der eine Neufassung der Diakonie-Dokumentation vom 20.08.2021 gefordert wird – diesmal als unabhängige und vor allem interdisziplinäre Aufarbeitung der Vorgänge im Seehospiz, dem größten aller deutschen Kinderkurheime. Die vielen Beschwerden über Gewalt in verschiedenen Formen sind hier im “Seehospiz-Forum” nachzulesen, das seit 2005 besteht.

        Es ist das einzige Forum aller 850 deutschen Kinderheilstätten, das auch in der NRW-Studie von Prof. Marc von Miquel erwähnt wird. Die Diakonie-Studie wertet, wie er ausdrücklich feststellt, die gut sortierten Berichte von “Betroffenen” nicht aus, zumal von denen keiner jemals angehört wurde. Dennoch war die Studie trotz ihrer Mängel und Unzulänglichkeiten eine Quelle für teilweise sehr ergiebige Aussagen über Straftaten an Kindern, die jedoch für den Laien nicht zu entschlüsseln sind.

        In diesem Sinne, und in der stillen Hoffnung, dass der Artikel nicht wieder gelöscht wird. Er soll zum “kollektiven Lernprozess” und zum “vernetzten Handeln” beitragen.

        1. Sehr geehrter Herr Toussaint,

          vielen Kindern, die in den 1950er bis 1980er Jahren in der alten Bundesrepublik zu Kinderkuren verschickt worden sind, ist in den Einrichtungen Leid geschehen. Die Diakonie bedauert sehr, dass dies auch in einigen ihrer Einrichtungen und denen ihrer Vorgänger-Organisation Innere Mission geschehen ist. Ihre pauschale Aussage für die Heime in Niedersachsen kann ich allerdings so nicht bestätigen, zumal uns eine gute Quellenlage fehlt. Wir werden dies im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen weiter klären, so gut es für uns möglich ist. An einem Lernprozess haben auch wir ein großes Interesse.

          Mit freundlichen Grüßen
          Ulrich Lilie

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