„Hinaus ins Weite!“ – Welche Selbstaufforderung könnte besser passen für Diakonie und Kirche in unserer Zeit, die geprägt ist von so viel Wandel und Unsicherheit? Nicht in immer enger werdenden Nischen sozialer und kirchlicher Arbeit, sondern im (mit-)fühlenden, (mit-)denkenden und handelnden Kontakt mit unserer Gesellschaft liegt der künftige Weg von Diakonie und Kirche. Genau darum ging es beim „Wir & Hier“-Kongress am 3. und 4. September in Hamburg: „Für eine diakonische Kirche mit Zukunft.“ Was für eine spannende Perspektive.
Klimawandel, Pandemie, Digitalisierung, politische Krisen: Manchmal scheint mir der Wandel die letzte Konstante zu sein. Kirche und Diakonie wollen – und können! – sich hier nicht abseits halten. Wir sind schließlich kein Automobilclub. Wir sind Teil dieser Gesellschaft der vielen Umbrüche und neuen Aufbrüche. Aber Kirche und Diakonie wollen auch Mitgestalter des Wandels sein. Und unserem öffentlichen Auftrag entsprechend einen starken Beitrag zu einer neuen Erzählung von Zusammenhalt und Teilhabe für alle leisten.
Der Wandel greift tief ein in das Leben vieler Menschen in Deutschland und in der Welt. Wie können Diakonie und Kirche helfen, die Herausforderungen einer immer diverseren und zugleich immer älter werdenden Gesellschaft zu bewältigen? In Großstädten und auf dem Land. In einer Zeit, in der die Digitalisierung in wenigen Jahren ganze Wirtschaftsbereiche und damit Hunderttausende Arbeitsplätze infrage stellt. In der bezahlbarer Wohnraum in teuren Metropolen knapp ist und das kleine Häuschen in der überalterten ländlichen Region nichts mehr wert. In einem Deutschland, in dem bereits ein Viertel der Menschen eine internationale Geschichte haben und das weitere Zuwanderung braucht. In einer Zeit, in welcher der Klimawandel der Menschheit mit katastrophaler Wucht die Folgen der Umweltzerstörung vor Augen führt.
Es braucht neue Antworten auf neue Herausforderungen – auch von Seiten der Diakonie und Kirche. Wie funktioniert Integration ohne Konfrontation? Sozial, wirtschaftlich, kulturell, politisch? Wie lässt sich die digitale Teilhabe aller gestalten? Wie lassen sich die Erderwärmung stoppen und die Anpassung an den Klimawandel so gestalten, dass wir heute nicht neue soziale Verlierer produzieren?
Mit seinen zwölf Leitimpulsen setzte der wegweisende „Wir & Hier“-Kongress an dem Ort an, den wir immer erreichen können und an dem wir eigentlich schon längst sind: Bei uns selbst. „Hinaus ins Weite“ liegt ganz nahe – im Sozialraum, in der Nachbarschaft. Eine diakonische Kirche bleibt nicht bei sich, sie geht aus sich heraus, verlässt sich und geht als Nächste auf die Nächsten zu. Sie lässt sich herausfordern vom unmittelbaren Sozialraum und lernt dazu im Zusammenspiel: Diakonie UND Kirche – zusammen einzigartig und wiedererkennbar. Glaube UND Werke, Handeln UND Deuten, Gottesliebe UND Nächstenliebe. Diakonische Kirche ist kein „closed shop“. Alle sind zu einem Beitrag eingeladen: Einzelne und Gruppen, Kirchenkreise, Verbände, Unternehmen – alle.
Denn nur so werden die Perspektivwechsel möglich, die wir brauchen für neue Antworten. Nicht die Wahrheit hinter sich zementieren – die Wahrheit zusammen entdecken. Das schafft Nähe – und Irritationen, ohne die es aber auch keine Innovationen geben kann. So entsteht eine neue Erzählung von Beheimatung, Zugehörigkeit und Gemeinsinn, die unserer Gesellschaft guttut und die sie dringend braucht. Einer diakonischen Kirche geht es auch nicht um das Erreichen von neuen oder längst verlorenen „Zielgruppen“ da draußen. Denn Kirche und Diakonie sind Bestandteil desselben Sozialraums! Und wo sich diakonische Kirche im Alltag einmischt, da feiern wir Gottesdienst. Im Alltag der Welt – mit Wort und Tat.
Diese diakonische Kirche ist konkret, fühlbar, erlebbar, handelnd und einladend. Damit die Menschen in einem Quartier gut und selbstbestimmt leben können, müssen sie vorkommen, sichtbar werden können. Es geht um Inklusion und Partizipation – um Zusammenleben ohne Ausgrenzung. Weil das erst funktioniert, wenn möglichst viele Bürger*innen, Kaufleute, Politiker*innen, Institutionen, Vereine, Selbsthilfegruppen und Initiativen partnerschaftlich zusammenarbeiten, bringen Kirchgemeinden oder diakonische Einrichtungen sich ein in diese Netzwerke und Kooperationen. Das kann im Kleinen geschehen, wenn Familienzentren zu offenen Orten werden, oder im Großen, wie im Quartiersentwicklungsprojekt Q8 in Hamburg mit einem Blick auf das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung nach ihren eigenen Vorstellungen.
Es gibt so viele gute Beispiele, die auf dem Wir & Hier-Kongress ihre Erfahrungen teilten. Das Stadteilzentrum „Bonni“ in Gelsenkirchen-Hassel etwa, das aus einem Gemeindezentrum in evangelischer Trägerschaft heraus entwickelt wurde. Heute ist es ein Modell einer neuartigen Partnerschaft zwischen Religionsgemeinschaften, lokalen Unternehmen, Banken, Stadtgesellschaft und Politik auf der Basis bürgerschaftlichen Engagements. Oder das Zentrum für Dialog und Wandel in der Oberlausitz. Es begleitet den Strukturwandel in der Lausitzer Braunkohleregion geistlich und seelsorglich.
Diakonische Kirche, das ist für mich eine spannende und kreative Kirche, die mitten im Leben für das Leben eintritt – (mit-)fühlend, handelnd, (mit-)denkend – und damit einfach menschlich. „Hinaus ins Weite“, das heißt für mich: von uns selbst und unseren eingefahrenen Sichtweisen absehen lernen und hinaus in den weiten Raum Gottes, dann finden wir neu zu uns selbst und zu unseren Nächsten.