1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland: So viele Veranstaltungen und Veröffentlichungen haben uns in diesem Jahr den Reichtum und die Vielfalt dieses Lebens, seiner Kraft und der Bedeutung für unser Land vor Augen geführt. Eine besondere Facette dieses Reichtums ist die soziale Arbeit der jüdischen Gemeinschaften. Dass wir 2021 auch den 70. Jahrestag der Wiedergründung der Zentralwohlfahrtsstelle (ZWST) nach der Shoah feiern können, ist ein Geschenk.
Grund zum Feiern: ZWST
Am vergangenen Sonntag haben wir dieses Datum in einem Festakt gewürdigt. In Berlin, in der Neuen Synagoge an der Oranienburger Straße – dem Ort der erstmaligen Gründung 1917. Denn ursprünglich ist die Zentralstelle ja ein Kind der jungen Weimarer Republik. Auf den Weg gebracht von der kämpferischen Bertha Pappenheim und dem Jüdischen Frauenbund kann die ZWST als eine moderne Tochter des frühen 20. Jahrhunderts gelten.
Caritas, Rotes Kreuz und natürlich auch die Diakonie (damals noch: Innere Mission) waren damals im Herzen noch kaisertreu und republikskeptisch. Aber die ZWST buchstabierte bereits, was es heißen kann, im Geist der Demokratie moderne Sozialarbeit auf den Weg zu bringen u n d zugleich in Religion und Tradition verwurzelt zu sein.
Kultur der Mitmenschlichkeit
Rabbiner Leo Baeck, ihr Vorsitzender seit 1925, bringt auf den Punkt, was wir den jüdischen Geschwistern verdanken: „Das Judentum hat den Begriff des Mitmenschen entdeckt.“ Und was braucht unsere mit großer Geschwindigkeit vielfältiger werdende Gesellschaft aktuell dringender als eine Kultur der Mitmenschlichkeit und der sozialen Gegenseitigkeit?
Diese Entdeckung der Mitmenschlichkeit ist grundlegend für unsere heutige Idee des Sozialstaates und die Arbeit der Freien Wohlfahrtspflege. Gelingendes Leben ist immer Leben in Beziehungen, in Gemeinschaft und in Verantwortung füreinander.
Das ist der Grund, in dem nicht nur die beiden christlichen Wohlfahrtsverbände Diakonie und Caritas ihre Wurzeln haben, sondern auch der Paritätische, die Arbeiterwohlfahrt oder das Deutsche Rote Kreuz – jeder auf seine Weise.
Wurzel Zedaka
Deswegen würde der Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) ohne die ZWST in ihrer Mitte nicht nur ein Partner fehlen. Ohne die jüdische Wohlfahrtspflege fehlte dem Verband ein lebenswichtiges Organ: die Verbindung zur Wurzel. Wir wären uns selber fremd.
Inspiriert von der Leitidee der „Zedaka“ – der Idee einer umfassenden und ausgleichenden Gerechtigkeit – haben herausragende und inspirierende Vertreter der jüdischen Wohlfahrt in den Leitungsämtern der ZWST die Zusammenarbeit in der BAGFW seit 1956 geprägt und bereichert: Max Willner, Alfred Weichselbaum, Heinz Galinski, Benjamin Bloch, Paul Spiegel und heute Abraham Lehrer – um nur einige zu nennen.
Dabei ist mir immer präsent, dass der Neuanfang, dessen Jubiläum wir in der vergangenen Woche gefeiert haben, und die Selbstverständlichkeit, mit der die sechs sehr unterschiedlichen Wohlfahrtsverbände in unserem Land miteinander arbeiten, alles sind, nur nicht selbstverständlich.
Unerträglicher Antisemitismus
In der kommenden Woche werden wir wieder an die Pogrome vom 9. November 1938 erinnern. Auch in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin wurde damals Feuer gelegt. Der couragierte Polizist Wilhelm Krützfeld trat den Brandstiftern entgegen und konnte eine vollständige Zerstörung verhindern. Doch 1945 hatten die Nazi nahezu alles zerstört, was jüdische Wohlfahrt vor der Shoah ausgemacht hatte: die Menschen vertrieben oder ermordet, Wissen, Können und Strukturen vernichtet.
1700 Jahre Geschichte von Jüdinnen und Juden in Deutschland ist auch eine Geschichte von Hass, Gewalt und Diskriminierung. Und die evangelische Christenheit trägt ihren Teil an dieser Schuldgeschichte. Heute müssen wir wieder erleben, dass Antisemitismus und Hass zur Realität in unserem Land gehören. Unerträglich ist das und mit allen Mitteln des Rechtsstaates zu bekämpfen. Als Präsident von Diakonie Deutschland und der BAGfW stehe ich dafür ein, dass sich die ZWST auf die entschiedene Solidarität der Kollegialverbände verlassen kann.
Die engagierte Bekämpfung von Rechtsextremismus und Antisemitismus, von Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit, der Einsatz für eine lebendige Demokratie, für Toleranz und eine offene Gesellschaft, in der jeder Mensch ohne Angst verschieden sein darf – das bleibt unsere Aufgabe. Angriffe auf Jüdinnen und Juden und ihre Einrichtungen, sind Angriffe auf den Kern der uns alle verbindenden Idee der Mitmenschlichkeit.
Zukunft in Vielfalt
1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Vielfalt hat in unserem Land eine lange und überaus fruchtbare Geschichte. Und was für ein erstaunliches Netzwerk hat sie für uns geknüpft über die Jahrtausende – aus Traditionen und Geschichten, aus Dialekten und Sprachen, aus Gerichten und Gewohnheiten: unsere reiche Kultur. Sie verbindet und bindet uns aneinander. Als Mitmenschen. So gewinnen wir Zukunft. In Vielfalt, mit Respekt, auf Augenhöhe. Mazel Tov!