Wir sind so frei – und bedanken uns. In großen Lettern, weiß auf violett, plakatieren wir landauf, landab: „Danke, Ihr Geimpften.“ Die Impfung ist der beste Schutz jedes und jeder Einzelnen vor einem schweren Verlauf der Krankheit, und sie bietet der Gesellschaft damit den Schutz vor der Überlastung des Gesundheitssystems. So gesehen ist sie das einzige Mittel, um die Pandemie zu überwinden und all die Freiheiten zurückzubekommen, auf die wir in den zurückliegenden zwei Jahren so schmerzlich verzichtet haben. Ja, wir sind so frei und sagen denjenigen unseren Dank, die dazu durch Impfungen ihren Beitrag geleistet haben.
Das gefällt einigen nicht. Aus der lautstarken Minderheit der Ungeimpften erreichen uns nun täglich E-Mails. Das überrascht nicht, denn an der Frage des Impfens verläuft eine Bruchlinie: nicht nur durch die Gesellschaft, sondern auch durch Teile von Kirche und Diakonie.
Es sei ihre individuelle Freiheit, schreiben und denken viele, sich dem Eingriff in ihren Körper zu verweigern und sich nicht impfen zu lassen. Und sie kritisieren die Diakonie und ihren Präsidenten dafür, die Forderung nach einer allgemeinen Impfpflicht zu unterstützen. Gern möchte ich leidenschaftlich gerade mit ihnen darüber streiten, wie wir auf den richtigen Weg kommen.
Auch auf dem Weg der Freiheit muss es wie im Straßenverkehr Leitplanken und Verkehrsordnungen geben. Gibt es zu viele Querlenker, ist diese Straße rasch verstopft. Dann gibt es kein Durchkommen – weder für die, die unterwegs überfordert schlapp machen, noch für diejenigen, die willensstark zum Ziel durchpflügen wollen. Am Ende kommt so keiner an – und die Freiheit gerät unter die Räder.
Ja, noch einmal: Die Freiheit des Individuums ist ein hohes Gut. Aber sie lässt sich nur umsetzen in geregelten Systemen und in Freiheitsgraden. Nur in politisch verfassten Gemeinschaften kann man Bürger sein und individuelle Freiheiten wahrnehmen, schreibt der Jurist und Philosoph Christian Möllers. Denn wenn der Eine seine vermeintliche Freiheit ohne Rücksicht auf Verluste und damit verbundene Folgen auslebt, gerät die Freiheit der Anderen schnell in Bedrängnis. Ohne ein Aushandeln, ohne ein Regelwerk, ohne einen Kompromiss gibt es keine Freiheit.
Freiheit ist stets gebunden – im besten Fall an Verantwortung. „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht allerdinge und jedermann untertan.“ Dieser Freiheitsbegriff des Reformators Martin Luther leitet uns als evangelischer Wohlfahrtsverband. Wir streiten für die Freiheit des Individuums – und wir wollen stets die Freiheit des Nächsten im Blick behalten. Freiheit und Gemeinsinn gehören darum untrennbar zusammen: Ohne Freiheit wird aus dem Gemeinsinn die Diktatur der Mehrheit, und ohne Gemeinsinn wird aus der Freiheit ein Kampf aller gegen alle – und die Schwächsten der Gesellschaft sind stets die ersten Verlierer.
Einzutreten für die Freiheit der Schwächsten, das ist gut diakonisch. Die Alten, Kranken, Menschen mit Behinderung – sie sind und bleiben am anfälligsten für das Covid-19-Virus. Und daher streite ich als Diakonie-Präsident auch gemeinsam mit vielen Mitarbeitenden in unseren Einrichtungen aus Überzeugung dafür, dass sich jede und jeder impfen lässt, der mit Menschen arbeitet, die uns anvertraut sind. Deren Freiheit und Recht auf soziale Teilhabe haben wir mindestens ebenso zu schützen wie die aller anderen, die selbst lautstark für ihre Rechte streiten können.
Diese Debatte führen wir offen für die Überzeugungskraft des besseren Arguments: in Familien und am Arbeitsplatz, in Vereinen und Gemeinden, in Parlamenten und auf der Straße. Wir dürfen das, weil wir in einer Demokratie leben, wir sind eben nicht auf dem Weg in eine Diktatur, wie manche behaupten. Aber zum Wesen der Demokratie gehört auch, dass am Ende der Debatte abgestimmt wird. Ich bin gespannt darauf, welche Mehrheit es am Ende gibt. Als Antwort einer freien Debatte kann durchaus eine Pflicht stehen: die zur Impfung, die uns letztlich aus der Pandemie befreit und Wege in die ersehnte Freiheit ermöglicht.
Lesen Sie zu dem Thema auch die Handreichung Im Gespräch bleiben!? für die Kommunikation mit Coronaskeptiker*innen.