Wer krank ist, braucht einen Arzt. Darauf können sich wohl die meisten Menschen verständigen. Und in der Tat ist Zugang zu gesundheitlicher Versorgung ein Menschenrecht, also unabhängig von Nationalität, Geschlecht oder Religionszugehörigkeit und auch vom rechtlichem Aufenthaltsstatus.
Eine Gesellschaft, die diesen Konsens teilt, wird versuchen, ihr Gesundheitssystem entsprechend zu gestalten. Doch in Deutschland leben Abertausende von Menschen, die ihr Recht auf gesundheitliche Versorgung nicht wahrnehmen können, ohne dass ihnen die Abschiebung droht.
Verbarrikadierter Weg
Denn um in einer Arztpraxis behandelt zu werden, müssen Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus einen Behandlungsschein beim Sozialamt beantragen. Und das Sozialamt ist wie andere staatliche Stellen auch verpflichtet, ihre Daten an die Ausländerbehörde weiterzugeben. So lautet das Gesetz; der Fachbegriff ist „Übermittlungspflicht“.
Es ist diese Übermittlungspflicht, die so vielen den Weg zum Arzt verbarrikadiert. Sie macht krank: Denn Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität meiden eine medizinische Behandlung – aus Angst vor Verhaftung und Abschiebung. Krankheiten werden verschleppt, lebensbedrohliche Krankheiten bleiben unbehandelt und selbst Kinder erhalten nicht die medizinische Versorgung, die sie benötigen.
Fast umgebracht
Ich erinnere mich noch genau an einen jungen Rumänen, der mir während meines „Präsidentenpraktikums“ in einer Praxis für Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus der Hamburger Stadtmission mit hier ehrenamtlich tätigen Ärzt:innen und Pfleger:innen begegnet war. Es ging diesem jungen Mann sichtbar schlecht, ein bereits fortgeschrittenes Prostatakarzinom hätte ihn beinahe umgebracht, weil es viel zu lang nicht behandelt worden war.
Nur dank eines unsichtbaren Netzwerkes konnte ihm in einem diakonischen Krankenhaus das Leben gerettet werden. Er war an diesem Tag einer von viel zu vielen Patient:innen in dieser ausschließlich aus Spenden finanzierten Praxis.
Gemeingut Gesundheit
Dabei ist Gesundheit ein Gemeingut. Das Recht auf medizinische Versorgung gilt für alle Menschen – mit oder ohne Papiere. Und der Staat muss sicherstellen, dass der Zugang zu medizinischer Versorgung in der Praxis tatsächlich für alle funktioniert. Auch in der Covid-19- Pandemie hat sich als ein Dauerproblem erwiesen, dass der Zugang zu gesundheitlicher Versorgung nicht für alle hier lebenden Menschen gleich ist.
Das will die Koalition endlich ändern, so steht es im Koalitionsvertrag, und in dieser Woche haben wir sie an dieses Vorhaben erinnern. Mit einer Delegation des Kampagnenbündnisses #GleichBeHandeln, dem 80 zivilgesellschaftliche Organisationen und Wohlfahrtsverbände angehören, haben wir im Reichstag eine Petition abgegeben, die weitere 26.000 Einzelpersonen unterschrieben haben.
Gemeinsam fordern wir, dass die für die gesundheitliche Versorgung zuständigen Ärzt:innen, Krankenhäuser und Amtsstellen von den Übermittlungspflichten im Aufenthaltsgesetz ausgenommen werden.
Kontext Ökonomisierung
Für mich steht diese gesundheits- und migrationspolitische Spezial-Frage in einem größeren Kontext. Das Stichwort ist: Ökonomisierung der Lebensverhältnisse. Denn man muss ja nicht ohne Papiere oder obdachlos sein, um in Deutschland Probleme zu haben, die ärztliche Behandlung zu bekommen, die man braucht.
Vor zehn Jahren erschien ein vielbeachtetes Buch des amerikanischen Moralphilosophen Michael Sandel. Es trug den englischen Titel „What Money Can’t Buy“. Das Buch ging wie ein Lauffeuer um die Welt, wurde in viele Sprachen übersetzt und entwickelte sich in Deutschland zum Spiegel-Bestseller. Der Untertitel lautete: Die moralischen Grenzen des Marktes. Ich habe mich schon auf ihn bezogen.
Michael Sandel versteht sich als „Kommunitarist“, als ein Denker also, der die Verantwortung des Individuums gegenüber seiner Umgebung betont. Er plädiert dafür, dass die grundlegenden Normen und Werte in einer Gesellschaft gemeinschaftlich geteilt und ausgehandelt werden und dann in einem starken Gemeinwohl ihre Umsetzung finden.
Reiche leben länger
Im deutschen Sozialstaat, der in vielen Ländern, auch in den USA, ein Fremdwort darstellt, ist vieles schon auf einem guten Weg. Doch auch bei uns lässt sich zeigen, wie etwas die Ökonomisierung aller Lebensbereiche das Gemeinwohl schwächt, auch im Gesundheitswesen.
Auch bei uns zeigt sich ein Vorrang der Ökonomie vor der gesundheitlichen Notwendigkeit. Zugespitzt gesagt: Reiche leben länger. Bin ich Kassenpatient, muss ich Monate auf einen Facharzttermin warten, als Privatpatient geht es häufig schon nächste Woche. Und selbst bei akuten und lebensbedrohlichen Erkrankungen wird auch im Krankenhaus zu allererst nach der nachweisbaren Krankenversicherung gefragt.
Ein anderes Beispiel: Nach dem furchtbaren Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz 2016 hatte die Rettungsstelle alle Hände voll zu tun, die Opfer ohne vorhandenen Krankenversicherungsschutz in schnelle und gute Behandlung zu bekommen.
Ist das fair?
Michael Sandel würde fragen: Ist das fair? Wo zeigt sich da die vielzitierte Europäische Wertegemeinschaft? Gesundheit ist ein Gemeingut, ein „common good“, zu dem alle Menschen unabhängig von Status, Hautfarbe, Nationalität oder Geschlecht Zugang haben müssen.
Gesundheit zuerst – dann mag alles andere kommen. Dass diese immer wieder vorgebrachte Forderung der Zivilgesellschaft Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden hat, lässt hoffen, dass wir hinter den Punkt Übermittlungspflicht bald einen Haken setzen könnten.
Bei uns soll in Zukunft jeder Mensch die bestmögliche Gesundheitsversorgung bekommen – ohne Angst vor negativen Folgen oder gar Abschiebung. Höchste Zeit!