In dieser Woche haben viele Menschen in diesem Land über Sterbewünsche, Suizidprävention und assistierten Suizid diskutiert – endlich auch im Deutschen Bundestag. Es war eine gute und wichtige Woche, finde ich. Denn in Kürze beginnt das lang erwartete Gesetzgebungsverfahren zur Neuregelung der Suizid-Assistenz. Ich setze mich dabei für eine Regelung ein, die dem Schutz des Lebens dient und zugleich die Selbstbestimmung achtet.
Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie in unserem Land gestorben wird, ist ein roter Faden in meiner Berufsbiografie. Als Klinikseelsorger habe ich in der Bundesrepublik der ’80er- und ’90er-Jahre noch erlebt, wie im Krankenhaus der Tod häufig nur als Niederlage der behandelnden Ärzte empfunden wurde.
Diffuse Ängste
Sterbende und ihre Angehörigen fanden in der Klinik buchstäblich keinen Raum für einen Abschied in Würde. Die Hospizbewegung war noch jung, Palliativmedizin ein Orchideenfach und in den Kirchen waberte angesichts von Hospizgründungen, wie unserer in Düsseldorf, noch eine diffuse Angst vor „Sterbekliniken“ in diakonischer Trägerschaft durch die Diskussionen.
Damals wie heute – bei jedem Nachdenken über Hilfen beim Sterben – meldet sich die Erinnerung und das berechtigte Entsetzen über die Patientenmorde während der Nazidiktatur. Das aus diesem Entsetzen nachhallende „Nie wieder!“ schwingt auch in jeder Debatte über jede Form von Suizid-Assistenz nach: Es gibt kein unwertes Leben und es darf in Deutschland nie wieder Diskussionen über unwertes Leben geben.
Die Würde jedes Menschen ist und bleibt unantastbar. Egal wie alt, krank, eingeschränkt oder hilfsbedürftig ein Mensch ist – niemand darf ihm oder ihr das Recht auf Leben streitig machen. So garantiert es – Gott sei Dank – unsere Verfassung.
Unantastbare Würde
Die vornehme und anspruchsvolle Aufgabe des Staates bei der Sicherung und Gewährung des Lebensschutzes – wir reden hier auch über Geld und Ressourcen – hat auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vor gut zwei Jahren deutlich unterstrichen. Und es gehört nun zu den vornehmsten Pflichten des Gesetzgebers, Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, die dafür Sorge tragen.
Mit diesen anspruchsvollen Aufgabenstellungen im Gepäck haben die Abgeordneten im Bundestag in dieser Woche eine erste Orientierungsdebatte über eine mögliche gesetzliche Regelung des Rechts auf eine Beihilfe zur Selbsttötung geführt.
Einig waren sich alle Redner:innen darin, dass wir einen neuen rechtlichen Rahmen brauchen, nachdem das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 entschieden hat, das bisherige Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe zu kippen, um das Selbstbestimmungsrecht in Bezug auf das eigene Sterben zu schützen. Denn seit diesem Urteilsspruch können Sterbehilfeorganisationen schalten und walten, ohne gesetzlich kontrolliert zu werden.
Gut, dass das Parlament noch vor der Sommerpause den Einstieg in das Gesetzgebungsverfahren plant. Ich habe diese Orientierungsdebatte der Abgeordneten am Mittwoch auf der Besuchertribüne des Bundestages mitverfolgt.
Leidenschaftlich kontrovers
Auch in Kirche und Diakonie haben wir in den vergangenen zwei Jahren die hochkomplexe, sensible Materie monatelang leidenschaftlich, kontrovers und sehr differenziert diskutiert: Was bedeutet ein Recht auf Suizidassistenz in den unterschiedlichen Arbeitsbereichen der Diakonie – in der Jugendhilfe, der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen, mit kranken, pflegebedürftigen, sehr alten Menschen, mit Menschen in Notlagen?
Was bedeutet es für Menschen, die in diesen Einrichtungen und Diensten arbeiten oder sie leiten? Mit welchen Auswirkungen für Mitbewohner:innen, für An- und Zugehörige, ist zu rechnen, wenn sie damit konfrontiert werden, dass ein naher Mensch Hilfe beim Sterben wünscht? Diese Fragen lösen zu recht bei allen Beteiligten ein Ringen um die richtigen Antworten aus!
Die Nerven lagen manchmal blank in dieser Debatte. Emotional war es. Aber mindestens genauso oft haben wir miteinander Sternstunden des differenzierten Gesprächs erlebt. Die Debatte hat unsere innverbandliche Gesprächskultur auf die Probe gestellt und zugleich sehr verbessert. Ich habe mich über die breite Beteiligung quer durch alle Berufsgruppen und Hierarchie-Ebenen in digitalen Kamingesprächen und vielen Diskussionen überall im Land sehr gefreut. Mit diesen Eindrücken im Hinterkopf bin ich in den Bundestag gefahren.
Die Debatte im Parlament war – bis auf wenige Ausnahmen – eher unaufgeregt, besonnen, ohne große inhaltliche oder emotionale Überraschungen. Die drei bislang vorliegenden Gesetzes-Entwürfe wurden routiniert besprochen. Die Redezeiten waren eng begrenzt, Zwischeninterventionen mit Rede und Gegenrede waren im Vorfeld ausgeschlossen worden. Auf Pathos oder Empörung wurde weitgehend verzichtet.
Gutes Signal
Das mag irritieren, aber ich lese es eigentlich als ein gutes Zeichen – für den grundsätzlichen Konsens über den hohen Wert der Menschenwürde und der herausragenden Bedeutung des Schutzes des Lebens. Es besteht höchstrichterlich angemahnter Regelungsbedarf und dem wird sachlich begegnet. Ein gutes Signal in Zeiten, in denen die Demokratie von innen und außen angegriffen wird. Ebenfalls wichtig und richtig: Der Fraktionszwang wurde in diesem Gesetzgebungsverfahren aufgehoben – die Abgeordneten sollen ganz frei ihrem Gewissen folgen.
Einen Tag nach dieser öffentlichen Debatte haben wir – die Ratsvorsitzende der EKD, Präses Dr. h.c. Annette Kurschuss und ich – die Abgeordneten zu einem öffentlichen parlamentarischen Abend in die Friedrichstadtkirche an den Gendarmenmarkt eingeladen. Sein Thema: „Suizidprävention gesetzlich verankern – Suizidassistenz sorgfältig regeln“.
Suizidprävention sichern
Prof. Dr. Barbara Schneider, Chefärztin an der LVR-Klinik in Köln und Vorsitzende des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland, hat uns alle an diesem Abend noch einmal sehr überzeugt, dass v o r einer konkreten Regelung der komplexen rechtlichen und fachlichen Fragen bei der Suizidassistenz zuerst ein Präventionsgesetz vom Bundestag verabschiedet werden sollte, das Menschen in suizidalen oder psychischen Krisen den Zugang zu schneller und kompetenter Hilfe sichert.
Es muss zuerst alles getan werden, um vermeidbare Suizide auch wirklich zu vermeiden! Hilferufe, etwa von jungen Menschen in Krisen, müssen schnell erkannt und richtig behandelt werden können. Dazu haben wir unser Forderungspapier eingebracht und viel Zustimmung von den Parlamentarier:innen erfahren.
An demselben Abend haben wir auch die neue Orientierungshilfe der Diakonie zum Umgang mit Sterbewünschen, suizidalen Gedanken und Wünschen nach Suizidassistenz vorgestellt. Sie ist das Ergebnis des monatelangen innerverbandlichen Konsultationsprozesses zum assistierten Suizid und lädt Begleitende, Beratende, Versorgende und Leitende in Diensten und Einrichtungen der Diakonie zum Reflektieren der eigenen Haltung in dieser Frage ein. Lesenswert ist sie für alle, die sich eine Meinung bilden möchten.
Diakonie mit anderen
Gerne haben wir diese Orientierungshilfe auch den Abgeordneten mit auf den Weg gegeben, verbunden mit der Hoffnung, dass sie neben den vielen anstehenden Gesprächen informierend und differenzierend zur Meinungsbildung im parlamentarischen und zivilgesellschaftlichen Prozess beitragen wird. Denn natürlich kann man in der ethisch schwierigen Frage des assistierten Suizids zu unterschiedlichen Urteilen kommen. Allemal in einer pluralistischen Gesellschaft. Auch das ist „Diakonie mit anderen“.
Wichtig ist mir, dass am Ende der zivilgesellschaftlichen und parlamentarischen Debatten eine Gesetzgebung steht, die sowohl eine hohe Einzelfallgerechtigkeit ermöglicht und sehr differenziert mit dem Thema Suizidassistenz umgeht als auch klar für Suizid-Prävention und eine mitmenschliche „Sorgekultur“ eintritt.
Das ist anspruchsvoll. Das heißt auch, verlässliche, durchfinanzierte Strukturen zu schaffen, in denen Menschen in seelischer und physischer Not mit Sterbewunsch verlässlich Hilfe finden. Denn diese Menschen bilden die ganz große Mehrheit – das hat Professorin Schneider mit Zahlen und Fakten eindrucksvoll belegt. Diese Menschen brauchen keine Suizidassistenz: Sie brauchen Hilfe zum Leben.
Nur ein Gemeinwesen, in dem für eine solche Präventions- und Sorgekultur echtes Geld in die Hand genommen wird, um Menschen in verzweifelten Situationen zurück ins Leben begleiten zu können, bleibt ein sicherer Ort für die wenigen, die trotz bester palliativer Versorgung, psychologischer und seelsorgerlicher Begleitung ihr Leben beenden möchten.
Liebe und Respekt
Um es noch einmal klar festzuhalten: Selbstverständlich wollen und werden wir uns als Diakonie nicht aktiv an der Handlung eines assistierten Suizids beteiligen. Aber: Wir begleiten alle Menschen und bleiben in Beziehung. Eine solche reflektierte, begleitende und dialogische Haltung passt zu einer Diakonie, die ihren Ort bei den Menschen hat – mit Liebe und Respekt.
Ich freue mich darüber, dass sich am Mittwoch auch im Bundestag ein breiter Konsens abgezeichnet hat, dass jede denkbare gesetzliche Regelung zur Suizidassistenz dringend und zuerst in ein Suizidpräventionsgesetz eingebettet werden muss. Auch der Ausbau von flächendeckender palliativmedizinischer und hospizlicher Versorgung wurde angemahnt.
Viel gewonnen
Wenn ein hoffentlich mit der nötigen Sorgfalt und Zeit erarbeiteter konsensfähiger Gesetzesentwurf diese Richtung nimmt, wenn der Regelung des assistierten Suizids ein Suizidpräventionsgesetz vorangestellt wird, wie Diakonie und EKD es mit anderen Wohlfahrtsverbänden und medizinischen Fachorganisationen fordern, hätten wir viel gewonnen: Für die Freiheit und die Würde und für das schützenswerte Leben und Sterben der Menschen in unserem Land.