Freiwilligkeit fördern

Pflicht oder Freiwilligkeit? Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die alte Frage nach einem Pflichtdienst für das Gemeinwesen aus guten Gründen neu gestellt. Ihn beschäftigt zu recht die wichtige Frage, wie wir den Gemeinsinn zukünftig wirkungsvoll stärken und der zunehmenden Segmentierung der Gesellschaft entgegen wirken können. Und wieder ist die alte Debatte in vollem Gang.

Mir erscheint nicht hinreichend geklärt, worüber eigentlich nachgedacht werden soll: eine Dienstpflicht? Ein Dienstjahr? Eine soziale, ökologische oder gesellschaftliche Dienstpflicht? Ein Beitrag für mehr Gemeinsinn für alle – oder nur für die junge Generation? Mit und ohne Beteiligung der Bundeswehr? Integriert in ein schulisches Curriculum?

Freiwillig für’s Gemeinwohl: Im Feriendorf Gross Väter See in Brandenburg unterstützen Teilnehmerinnen des Freiwilligen Sozialen Jahres die Urlauber. Foto: Diakonie/Kathrin Harms

Selbstverständlich unterstütze ich mit vielen anderen jede gute Idee, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken hilft. Unsere immer diversere Gesellschaft braucht dringender denn je das Engagement vieler – nicht nur junger – Menschen für das Gemeinwohl. Selbstverständlich braucht es neue mutige Ideen und neue Orte, wenn in der „Gesellschaft der Singularitäten“ ein Wir-Gefühl  wachsen soll, das das eigene Milieu übergreift und die eigene Filterblase öffnet.

Attraktiv und selbstverständlich

Dass aber ein Pflichtdienst der richtige Weg ist, gerade junge Bürgerinnen und Bürger nachhaltig dafür zu begeistern, solidarisch zu leben, sich kontinuierlich und selbstverständlich für das Wohl anderer einzusetzen, bezweifele ich: Freiwilligkeit, intrinsische Motivation und persönliche Überzeugung müssen entscheidend bleiben. Das ist der Spirit, aus dem neuer Gemeinsinn wachsen kann.

Staat und Zivilgesellschaft sollten alles dafür tun. Es gilt, „Begeisterung für“ oder „Sehnsucht nach“ Gemeinsinn zu wecken und solchem Wunsch nach Initiative dann den Weg ins Engagement und die entsprechenden Erfahrungen anzubieten. Anders gesagt: Es sollte nicht verpflichtend, sondern sehr attraktiv und gleichzeitig vollkommen selbstverständlich sein, sich für das Gemeinwohl zu interessieren.

Ein Pflichtdienst klingt mir doch etwas zu sehr nach dem Aufsatz, den Siggi Jepsen, der schwer erziehbare Jugendliche aus Siegfried Lenz‘ Roman „Deutschstunde“, aufgebrummt bekommt: „Die Freuden der Pflicht.“ Eine ziemlich deutsche Idee.

Hürden, Kosten und Bedenken

Zumal gälte es, beträchtliche rechtliche und bürokratische Hürden zu überwinden. Zum Beispiel müsste das Grundgesetz im Parlament geändert werden – mit einer Zweidrittelmehrheit. Es würde außerdem immense Kosten verursachen, wenn in Deutschland jährlich etwa 600.000 – 700.000 junge Menschen „eingezogen“ würden. Schätzungen gehen von zehn bis 17 Milliarden Euro aus.

Mit einem Bruchteil dieser Summe ließen sich die bestehenden Freiwilligendienste mit derzeit ca. 100.000 Teilnehmenden/Jahr sprunghaft verbessern. Quantitativ und qualitativ.

Aber meine grundsätzlichen Anfragen setzen vorher an und sind vor allem kulturell-politischer Natur: Die Zeiten, in denen „Pflicht“ ein überzeugendes Argument war, um gewünschte Verhaltensweisen durchzusetzen, sind uns inzwischen zum Glück eher fremd.

Die emotional heftigen Debatten um eine pandemieindizierte, zeitlich begrenzte, allgemeine Impfpflicht sind kaum verhallt. Auch sie haben mehr als deutlich gemacht, wie schwierig der Begriff der Pflicht wird, wenn es um Handlungsweisen geht, die eine Selbstzurücknahme im Interesse des Gemeinwohls verlangen.

Pflicht und Freiheit

Das sage ich, gerade weil ich mich immer für eine solche Impfpflicht ausgesprochen habe. Ich halte auch das Üben freiwilliger Selbstzurücknahme im Interesse des Gemeinwohls durchaus für die gebotene Sozialübung der Stunde. Aber eine allgemeine Pflicht auszurufen, sollte in der freien Gesellschaft, in der wir leben, eben eine gut begründete Ausnahme bleiben.

Selbstverständlich brauchen wir mehr Menschen, die bereit sind, Verantwortung für alle zu übernehmen. Doch die Forderung, dass ausgerechnet die Jugendlichen und jungen Erwachsenen nach Jahren von Corona-Einschränkungen sich „in die Pflicht nehmen“ lassen sollen, gehört doch eher in eine andere Zeit. In ein anderes, überwundenes, etwas angestaubtes Verständnis von Gesellschaft, das zudem etwas oberlehrerhaft und belehrend daherkommt.

Zentral für unsere heutige Demokratie ist doch der Gedanke der Augenhöhe und dem entspricht das freiwillige Engagement und seine tatsächliche Wertschätzung. Ja, das ist eine der wichtigen Säulen unserer Zivilgesellschaft, in der eben auch Individualität, Wahlfreiheit und die freie Entfaltung der Persönlichkeit eine große Rolle spielen.

Junge Menschen sollten darum früh die Erfahrung machen können, dass und wie Gemeinsinn und Freiwilligkeit bzw. Selbstzurücknahme und Entfaltung zusammengehören. Dafür braucht es vor allem förderlichere Strukturen und ausreichende Ressourcen, Kreativität und Geld.

Freiwilliges Engagement ist unverzichtbar und: Es lohnt sich und bereichert – manche ein Leben lang. Das sollte die kollektiv mögliche Lernerfahrung sein – und zwar nicht nur ideell. Sie sollte in der Bevölkerung so selbstverständlich und attraktiv wie möglich sein. Und darauf sollten wir alle Anstrengungen und Debatten konzentrieren.

Freiheit und Selbstzurücknahme

Eine solche Haltung wird meiner Meinung nach auch der jungen Generation gerechter. Denn gerade unter jungen Menschen beobachten doch sehr viele mit großer Wachheit, wie der menschengemachte Klimawandel den Lebensstil der Industrienationen in Frage stellt, und viele engagieren sich entsprechend.

Gerade die Jungen haben viel schneller begriffen als manche der Eltern- und Großelterngeneration, dass die Endlichkeit der Ressourcen und die Vulnerabilität der Ökosysteme das Thema Selbstzurückname und verbindliche Regeln zu Recht auf die politische Tagesordnung der Gesellschaft zurückbringt. Das zeigen auch die neuen Profile von vielen Freiwilligendienstplätzen mit ökologischem Schwerpunkt.

Eine Dienstpflicht mag vielleicht auf den ersten Blick als ein probates Mittel für mehr Gemeinsinn erscheinen. Sehr viel angebrachter und nachhaltiger aber ist es doch, dafür Sorge zu tragen, dass gemeinsinnorientiertes Verhalten ganz selbstverständlich klare Vorteile bringt für die, die solches Engagement beweisen.

Vorteile für Engagierte

Menschen, die sich für das Gemeinwohl einsetzen, sollten mehr vom Leben haben. Sie sollten Förderung und echte Wertschätzung erfahren. Und zwar in jeder Alterskohorte und in jedem gesellschaftlichen Segment. Gemeinwohlorientiertes Engagement sollte superattraktiv sein und es sollte – siehe oben – freiwillig bleiben.

Eine Flatrate für Bahn und ÖPNV könnte solch ein Anreiz sein. Wir unterstützen schon lange die Kampagne #FreieFahrtFürFreiwillige, in die sich junge Menschen schon seit geraumer Zeit mit viel Verve einbringen.

Der Katalog der Vorteile könnte auch Sonderpunkte bei Studien- und Ausbildungsplatzvergabe im Öffentlichen Dienst bieten, Rabatte für Eintrittskarten staatlicher Kultureinrichtungen, die Möglichkeit bei Einkäufen „Gemeinwohl“-Punkte zu sammeln und und und. Hier ist noch sehr viel Luft für unbürokratische und attraktive Ideen.

Nein, ein Pflichtjahr wird wohl kein Schlager werden. Diese Idee klemmt irgendwo zwischen Schul-, Steuer- und Wehrpflicht und wirft viele Fragen bei der Umsetzung auf. Die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages und die Generalität der Bundeswehr haben sich mit guten Gründen gegen eine Dienstpflicht in ihren Reihen ausgesprochen.

Missbrauch verhindern

Soziales Engagement und Freiwilligkeit gehören zusammen wie zwei Seiten einer Medaille.Und auf gar keinen Fall darf ein soziales Pflichtjahr als preiswerte Mittel zur Behebung des Fachkräftemangels, etwa in der Pflege, missbraucht werden. Die Zahlen, die uns seit vielen, vielen Jahren vorliegen, zeigen: Es würde sowieso nicht funktionieren.

Die hohe, oft zu schlecht bezahlte Professionalität, die sich etwa in Kindergärten, Krankenhäusern, Einrichtungen der Altenpflege oder Jugendhilfe findet, lässt sich weder durch freiwillige, noch durch dienstverpflichtete Helfer:innen ersetzen. Soziale Berufe kann eben nicht jeder. Die es können und wollen, auch die sollten zukünftig viel mehr vom Leben haben.