Wer erleben möchte, wie wirkungsvoll die Arbeit einer kleinen, aber gut vernetzten diakonischen Kirche mit klug gewählten Kooperationspartnern und sehr viel freiwilligem Engagement sein kann, findet derzeit in Polen großartige Vorbilder. Nur 70 000 Mitglieder hat die Evangelische Kirche in unserem Nachbarland. Das sind ungefähr 0.25 Prozent der Bevölkerung, aber sie ist mit ihrer Diakonie ein sehr vitaler Teil der polnischen Zivilgesellschaft.
Beispiel Flüchtlingsarbeit
Beispiel Flüchtlingsarbeit: Es war mucksmäuschenstill im Plenum der Konferenz für Diakonie und Entwicklung, als Wanda Falk, die Generaldirektorin der Diakonie Polen, von der Arbeit der Diözesen, Kirchengemeinden und Einrichtungen mit und für geflüchtete Menschen erzählte.
Mit den geflüchteten Menschen aus der Ukraine, aber auch mit den schrecklich vergessenen Flüchtlingen aus dem Mittleren Osten im abgesperrten Grenzgebiet zu Belarus. Zeitweise hatte die Diakonie Polen als einzige NGO einen Zugang ins Sperrgebiet und konnte wenigstens punktuell mit Decken, Hygieneartikeln etc. unterstützen. Eine Arbeit, die weitergeht, auch wenn die fatale Situation in der Ukraine viel Kraft bindet.
Denn seit dem 24. Februar, dem Beginn der jüngsten heißen Phase des russischen Angriffskrieges, haben rund 7,4 Millionen Menschen aus der Ukraine ihren Fluchtweg durch Polen gewählt. Eine Karawane des Leids und der Angst. Erschöpfte Menschen, die Schlafplätze, Toiletten und Waschgelegenheiten brauchen, Hygieneartikel, Essen und Trinken, vielleicht medizinische Versorgung, bestimmt Trost, Beratung und vieles mehr. Eine Million von ihnen ist in Polen geblieben – überwiegend Frauen, Kinder und alte Menschen.
Gewaltige Herausforderung
Diese Anzahl an Menschen ist eine gewaltige Herausforderung – für das ganze Land. Zum Vergleich: Auch in Deutschland sind inzwischen gut eine Million ukrainischer Flüchtlinge registriert – aber Polen ist nicht nur flächenmäßig kleiner als die Bundesrepublik, es leben auch nur etwa 37 Millionen Menschen dort und das Bruttoinlandsprodukt liegt nur bei rund 570 Milliarden Euro. In Deutschland sind es dagegen fast 3571 Milliarden Euro.
Es ist vor allem die Solidarität der hochengagierten polnischen Zivilgesellschaft, die die Aufnahme der Geflüchteten ermöglicht. Und die Diakonie Polen ist eine der leuchtenden Facetten dieser Zivilgesellschaft.
Denn auch wenn die polnische Regierung etwa durch das „Gesetz zur rechtlichen Gleichstellung ukrainischer Personen“ den ukrainischen Geflüchteten den Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem, dem Arbeitsmarkt, zu Leistungen der Sozialhilfe und zu psychologischer Beratung erleichtert hat, und für 18 Monate Rechtssicherheit gewährt, braucht es viel mehr, damit Mütter mit Kindern, Schwangere, alte und kranke Menschen, mit und ohne Behinderungen in der polnischen Gesellschaft ankommen können.
Evangelische Eigeninitiative
Wanda Falk erzählt, wie sich bereits direkt nach Kriegsbeginn erste evangelische Kirchengemeinden auf die sich abzeichnende Fluchtwelle vorzubereiten beginnen: Unterkünfte in Gemeinde- und Pfarrhäusern werden identifiziert und in Eigeninitiative bezugsfertig gemacht: Es wird renoviert, Strom-, Wasser-, Gas- und Heizungsanlagen werden installiert, Möbel werden besorgt.
In einem gemeinsamen Aufruf von Kirchenleitung und Diakonie Polen, auch an die internationalen Partner, kommen Sach- und Geldspenden zusammen, die gesichtet, gelagert und verteilt werden. Richtig Fahrt nimmt die Arbeit dann auf, als die Diakonie Polen als Partnerin der Kirchengemeinden die Diakonie Katastrophenhilfe mit an Bord holt.
Das Projekt „Aufnahme und Integration ukrainischer Flüchtlinge mit Hilfe der lutherischen Kirchengemeinden in Polen“ mit 1,2 Millionen Euro Spendenmitteln wird aufgesetzt. Es ermöglicht nun an verschiedenen Standorten psychosoziale Beratungen, Integrations- und Sprachkurse, Freizeitangebote für die Kinder und vieles mehr.
Diakonische Kirche
Vor Ort werden die Projekte von den verantwortlichen Pfarrer:innen der Kirchengemeinden und Diakonieeinrichtungen geleitet, die Gesamtverantwortung liegt bei der Diakonie Polen. Über 40 Gemeinden erreichen rund 5000 Geflüchtete. Das ist diakonische Kirche.
Ein anderes Projekt, das Diakonie Polen und Diakonie Katastrophenhilfe auf den Weg gebracht haben, unterstützt über 19.000 Geflüchtete über die Ausgabe von Geldkarten mit Bargeldhilfen. Sie ermöglicht den Flüchtlingsfamilien, die zu 90 Prozent aus Frauen und Kindern bestehen, ihre Grundbedürfnisse selber zu decken, ohne sich als Bittsteller:innen zu erleben.
Denn es geht ja nicht nur ums Geld, sondern auch um die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Würde sowie um die Reduzierung des bürokratischen Aufwands. Im Rahmen der Winterhilfe wurde dieses Projekt gerade auf 12 Millionen Euro aufgestockt.
Deutsch-polnische Partnerschaft
Es ist mir eine Freude, dass die grenzüberschreitende, seit den frühen Neunzigerjahren stetig gepflegte und gewachsene deutsch-polnische Partnerschaft heute solche Früchte trägt. Diese Verbindung besteht, seit die evangelische Kirche in Polen 1993 wieder eine organisierte diakonische Tätigkeit aufnehmen konnte.
Seitdem hat sich unsere Partnerschaft und Freundschaft immer weiter vertieft – zwischen den Organisationen und den Menschen, auf der Bundes- wie auf der Landesverbandsebene. Wir stehen im Erfahrungsaustausch beim Aufbau diakonischer Strukturen, bei der Durchführung von Projekten für sozial Ausgegrenzte, bei Fortbildungen, Studienreisen und Konferenzen.
Nachhaltige Unterstützung
Im Hochwasserkrisenjahr 1997 kam die Diakonie Katastrophenhilfe dazu. Gemeinsam mit den polnischen Partnern in der damals noch jungen polnischen Diakonie konnte sie gezielt und schnell unterstützen und auch über das Krisenjahr hinaus dazu beitragen, dass die Folgen der Überflutungen in manchen der betroffenen Städte gemildert wurden.
Immer wieder gelingt es auch, in dieser grenzüberschreitenden Zusammenarbeit nachhaltige Formen der Unterstützung anzustoßen, Strukturen zu etablieren, Knowhow aufzubauen und so dazu beizutragen, die soziale Arbeit der evangelischen Kirche in Polen weiter zu stabilisieren. Wanda Falk ist eine unermüdliche Netzwerkerin der Freundschaft.
Auch dass wir in diesem Krisenjahr 2022 in der Flüchtlingshilfe so schnell und so erfolgreich zusammenarbeiten, verdankt sich dieser eingeübten Kooperation.
Netzwerk der Barmherzigkeit
Nach schrecklichen Jahren und einer furchtbaren deutschen Schuldgeschichte besteht heute ein Grundvertrauen zwischen vielen Personen. Und es gibt den verbindenden gemeinsamen Geist der Menschenfreundlichkeit Gottes, aus dem sich unser Arbeiten speist. Ein großes Geschenk! Wir erleben, was Kirche ist, was auch eine kleine Kirche sein kann, wenn sie sich als Teil eines Netzwerks der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit versteht.
Die Diakonie Polen denkt mit ihrer Kirche europäisch, weit über den nationalen Tellerrand hinaus, sie verknüpft Gemeinde-, Diözesan- und Verbandsdiakonie und wird als Teil der Zivilgesellschaft aktiv, sie lebt und pflegt ökumenische Partnerschaften. Wir können in Deutschland von diesem ansteckenden polnische Modell einer diakonischen Kirche „mit anderen“ viel lernen, es ist auch für die sich grundlegend ändernde deutsche Gesellschaft ein Zukunftsmodell.
Inspiration Diakonie Polen
Morgen werde ich gemeinsam mit Martin Kessler, dem Direktor der Diakonie Katastrophenhilfe, nach Warschau reisen, zur jährlich stattfindenden „Ubi Caritas-Gala“ der drei christlichen Wohlfahrtsverbände in Polen. Wir – genauer das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung mit unseren Arbeitsbereichen Diakonie Deutschland, Brot für die Welt und Diakonie Katastrophenhilfe – werden mit dem Preis „Barmherziger Samariter 2022“ geehrt, der u.a. für Verdienste in der Zusammenarbeit mit der Diakonie Polen verliehen wird.
Es ist uns eine Ehre, diesen Preis stellvertretend für unsere Mitarbeitenden mit „Samariterherz“, die seit 1993 mit der Diakonie Polen zusammenarbeiten konnten, entgegenzunehmen. Dieser Preis zeichnet jede und jeden von ihnen für eine bis heute gelebte und so fruchtbare Versöhnungsarbeit aus.