Misstrauensvorschuss

Immerhin: Das Bürgergeld kommt, Hartz IV ist Geschichte. Das ist eine gute Nachricht, auch für alle, für die 52 Euro mehr im Monat gerade in diesen Zeiten einen erheblichen Unterschied machen. Aber es ist noch lange nicht das Ende der notwendigen Debatte. Heute haben Bundesrat und Bundestag über den im gemeinsamen Vermittlungsausschuss erzielten Kompromiss abgestimmt. Das Gesetz kann zum Jahresbeginn in Kraft treten.

Das ist nicht nichts, reicht aber natürlich vorne und hinten nicht, um die Inflation und die steigenden Energiepreise auszugleichen, und für alle Bürger:innen ein menschenwürdiges Existenzminimum sicherzustellen. Aber immerhin: Auch mehr sozialer Arbeitsmarkt, Beratung, Qualifizierung und Sozialarbeit sind damit versprochen.

Menschen vor einem Tisch der Lebensmittelausgabe von Laib und Seele.
Wenn das Geld nicht reicht: Lebensmittelausgabe bei der Aktion Laib und Seele der Berliner Tafel. Foto: epd-bild/version/Elena Kok.

Geringere Hürden

Gut ist auch, dass die Zuverdienstmöglichkeiten mit dem neuen Bürgergeld erweitert werden. Das bedeutet: Junge Auszubildende können mehr dazuverdienen, Haushalte mit geringen Einkommen, die bisher keine ergänzenden Hilfen erhalten haben, werden jetzt anspruchsberechtigt.

Und: Erwerbsarbeit mit geringen Einkommen lohnt sich mehr, gerade weil ergänzende Hilfen leichter beantragt und bewilligt werden können. Auch die Karenzzeit, die nun nur noch ein Jahr betragen soll, senkt hoffentlich die Hürde, um in Notlagen staatliche Hilfe, Beratung und Qualifizierung bei der Jobsuche zu beantragen.

Für Geringverdienende heißt das: Sie können ihre Ansprüche geltend machen, ohne Angst vor einem Umzug und mit immer noch relativ hohen Vermögensfreibeträgen. Wer also für mehrere Monate in ein finanzielles Loch fällt, kann dies jetzt leichter ausgleichen und sich neu erfinden. Auch das ist in der aktuellen Krisensituation eine gute Nachricht. Und gute Nachrichten brauchen gerade die, die in diesen Zeiten arbeitssuchend sind.

Misstrauensdebatte

Was aber rund um die öffentlichen Debatten zum Bürgergeld verstörend bleibt, ist diese politische Fixierung auf eine Logik der Sanktionen und die Wiederkehr der alten Misstrauensbekundungen, die die Auseinandersetzung geprägt haben. Wie kann man in diesen Zeiten der komplexen und eben auch sozialen Krisen ernsthaft öffentlich mit Stilblüten aus der Schwarzen Pädagogik argumentieren und auf Zwänge und Sanktionen als bevorzugtes Mittel der Wahl beharren?

Und welches Bild von Bürgerinnen und Bürgern vermittelt diese Diskussion über das Bürgergeld eigentlich? Wo bleiben die mit der gleichen Leidenschaft geführten Debatten über das Sozialverhalten und die „Mitwirkungspflichten“ der Besserverdienenden und gut Etablierten in diesem Land? Arbeitssuchende und Arme zu verunglimpfen, ist kein wirksames Mittel zur Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit. Das ist Populismus auf Kosten der Schwachen.

Unter Generalverdacht

Rund acht Millionen Menschen in Deutschland beziehen existenzsichernde Leistungen. Dazu kommen die vielen Familien oder Rentnerinnen und Rentner, deren Einkommen knapp über den Anspruchsgrenzen für Unterstützungsleistungen liegt und die derzeit wegen der Inflation und den hohen Energiepreisen noch tiefer in die Armut rutschen.

Jede Lebensgeschichte, die sich hinter den nüchternen Zahlen verbirgt, ist anders. Aber sie alle stehen, wenn man sich die Augen reibend den Bürgergeldbedenkenträger:innen zuhört, unter dem Generalverdacht zu betrügen und es sich in der „sozialen Hängematte“ bequem machen zu wollen. Auf Kosten der Steuerzahler. – Ein wirksames Geldwäschegesetz gibt es immer noch nicht in diesem Land und durch Steuerbetrug gehen dem deutschen Staat jedes Jahr 160 Milliarden verloren.

Trotzdem feierte die alte Leier, dass Leistungsberechtigte nur unter Zwang aktiv werden in den Debatten und Kommentaren der vergangenen Tage ein beschämendes Comeback: Dass man ihnen mit Verlust der Altersvorsorge oder Wohnung drohen müsste, damit sie „die Jobsuche nicht zugunsten einer staatlich alimentierten Bequemlichkeit aus den Augen verlieren.“

Alter Hut

Dabei kann jeder wissen, der sich beispielsweise für Menschen mit mehreren Vermittlungshemmnissen wirklich interessiert: Es ist einfach nicht wahr, dass sie ihre Situation nicht ändern möchten. Sehr viele können es ohne Coaching und Qualifizierung nur nicht.

Die Erfahrungen mit dem nun wirklich alten Hut der „Fördern und Fordern“-Logik in mehr als anderthalb Jahrzehnten mit Hartz IV zeigen: Sie funktioniert eben nicht. Mehr als die Hälfte der Leistungsbeziehenden blieb trotz scharfer Sanktionen jahrelang im Leistungsbezug – nicht, weil es so schön oder so bequem wäre, auf Hartz IV zu sein, sondern weil es für sie auf dem Arbeitsmarkt auch in Zeiten guter Wirtschaftslage mit der bisherigen Praxis keine Perspektiven gegeben hat.

Einzelfallhilfe hilft

Selbstverständlich braucht es für Veränderungen in der persönlichen Situation engagiertes Mitwirken. Aber es braucht eben genauso wichtige passgenaue Unterstützungsangebote, die den Notlagen der Menschen und der Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt wirklich gerecht werden. Hier geht es um viel mehr als um Geld, es geht um professionelle Einzelfallhilfe und neue Anforderungen an die Jobcenter.

Und – es geht um menschliche Schicksale. Multiple persönliche und soziale Problemlagen lassen sich mit „Knecht Ruprecht-Sanktions-Ruten“ nicht einfach wegzwingen. Das ist eine gerne genommene politische Mär. Und gleichzeitig zeigt der Ansturm bei den Tafeln, dass selbst im Leistungsbezug das Lebensnotwendige kaum gewährleistet ist.

Nadelöhr Jobcenter

Ob die nun gesetzlich zugesagten Hilfen schnell bei den Menschen ankommen, hängt nicht zuletzt davon ab, ob die Jobcenter die Anträge zügig und kompetent bearbeiten können. Auch das wird nicht einfach sein, denn von den Personalräten der Jobcenter hören wir, dass der Personalmangel auch dort massiv ist. Und unsere Beratungsstellen berichten, dass die Antragsverfahren schon jetzt viel zu lang dauern. Die Menschen sind aber akut in finanzieller Not und können nicht mehr lang warten.

Trotz alledem: Das Bürgergeld ist ein Anfang. Ein Schritt in die richtige Richtung eines längst überfälligen Paradigmenwechsels.

 

P.S.: Sonntag ist der erste Advent. Licht leuchtet in der Dunkelheit. Und wir werden auf einen ganz anderen Paradigmenwechsel vorbereitet. Gott wird Mensch, es lohnt sich in diesen Tagen einmal nachzulesen und sich an die Umstände erinnern zu lassen, die er sich dafür ausgesucht hat. Und was das wohl mit Christsein im Alltag der Welt zu tun haben könnte.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Lieben eine gesegnete Adventszeit.